Linke Sprachlosigkeit

Die Mühen der Selbstkritik, abstrakte Kapitalismusanalyse und die Notwendigkeit von Identitätskämpfen als Betätigungsfeld linker Politik

  • Alex Struwe
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt kaum etwas Ermüdenderes als die gegenwärtige Debatte um Identitätspolitik. Nicht nur, dass man sich an der bis zur Karikatur entstellten instrumentellen Vernunft von »Welt«-Kolumnisten, der intellektuellen Demenz eines Wolfgang Thierse oder der autoritär-linken Sahra Wagenknecht abarbeiten muss. Vor allem steigt man dabei in eine Debatte ein, in der eigentlich alles schon gesagt ist. Neu entdecken daher eher Rechte die Identitätspolitik als eine Projektionsfläche für Fantasien von liberalem Faschismus und Meinungsterror, totalitärer Genderideologie und Cancel Culture.

Wer über diese Stöckchen springt, kann eigentlich nur den liberalen Status quo verteidigen. Kein Wunder also, dass sich radikale Linke fast vollständig aus der Debatte verabschiedet haben. Übrig bleibt dann, linke Identitätspolitik für den Niedergang der Arbeiterparteien (also der SPD) verantwortlich zu machen, Polemik gegen »Lifestylelinke« und deren Wohlstandsverwahrlosung, oder die Kritik einer »wokeness« als Geschäftsmodell. Solche pauschalen Delegitimierungen realer Kämpfe, etwa gegen Rassismus, Sexismus oder schlicht für die Einlösung des liberalen Versprechens auf Selbstbestimmung, taugen zu keinem Prozess linker Selbstkritik.

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Tatsächlich gibt es durchaus Kritikwürdiges. Aber was wäre denn eine linke Gegenposition zur vermeintlich liberalen Identitätspolitik, um dies zur Sprache zu bringen? Generell wird das Phänomen und der Begriff von links dafür kritisiert, dass sie nicht radikal genug seien. Statt an der grundlegenden Änderung der Verhältnisse orientiere sich Identitätspolitik nur an den Belangen derjenigen Subjekte, die aus diesen Verhältnissen entstanden sind. Der Vorwurf lautet, dadurch würden Identitäten essenzialisiert.

Die »traditionelle« linke Gegenposition dazu wäre Klassenpolitik. Also die Annahme, dass gesellschaftliche Struktur wesentlich die Position der Individuen bestimmt und als solche für die sozialen Übel bekämpft werden muss. Wie Identitätspolitik hat auch der Klassenbegriff seit einiger Zeit wieder Konjunktur. Didier Eribon hatte ihn 2016 viel beachtet in die deutsche Diskussion eingebracht, als er halbautobiografisch aufarbeitete, dass vielen Identitätskämpfen eine Dimension von sozialer Herrschaft zugrunde liege, die er als »›Krieg‹ des Bürgertums und der herrschenden Klassen […] gegen die populären Klassen« beschrieb. Ähnliche Positionen vertreten etwa im Literaturbetrieb Anke Stelling oder Christian Baron. Natürlich ist Klasse auch Gegenstand politischer Debatten, wie etwa um eine »Neue Klassenpolitik« oder der jüngst sehr lebhaften Diskussion um Klassismus.

Das Problem ist, dass Klassenpolitik dabei eigentlich nur zwei Dinge bedeuten kann. Entweder man bezieht sich wirklich auf eine Analyse der Gesellschaft als Klassengesellschaft, in der die verschiedensten kulturellen und politischen Konflikte auf diese Art Hauptwiderspruch zurückführbar sein müssen. Diese Analyse gibt es aber streng genommen für die historische Gegenwart nicht und lässt sich nur über ein Autoritätsargument aufrechterhalten, Marx hätte eben Recht gehabt. Bei Marx selbst war aber Klassenherrschaft noch die konkrete Analyse gesellschaftlicher Realität, bevor er das politische Subjekt der Arbeiterklasse zu deren Überwindung beschwor. Heute muss das eher behauptet werden, als es gezeigt werden kann, und deswegen spricht man von Klasse auch eher im Sinne von Armut oder Sozialisierung in einem prekären Milieu. Politisch wird der Klassenbegriff also viel häufiger nur als Schlagwort benutzt, um ein möglichst umfangreiches politisches Subjekt für gesellschaftliche Veränderung zu mobilisieren. Klasse ist dann keine strenge gesellschaftstheoretische Bestimmung, sondern soll nur irgendwie ein grundlegenderer Teil der Identität sein.

Genau in dieser Verwendung aber bleibt das Problem von Identitäts- und Klassenpolitik das gleiche: Sie setzen ihre Subjekte unproblematisch voraus und können nicht erklären, wie diese überhaupt derart zustande kommen, geschweige denn in Aussicht stellen, durch sie hindurch ein gutes Leben für alle zu gestalten. Was aber wären denn überhaupt die Bedingungen einer Perspektive, die aus der Schlechtigkeit der Verhältnisse herausführt, statt sie zu verstetigen? Zumindest für eine marxistische Linke war die Antwort darauf Materialismus, also die Annahme, dass »alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, […] ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis« finden, wie es in Marx’ Feuerbachthesen heißt. Das bedeutet erst einmal nur, dass sich Gesellschaft als menschliche Tätigkeit erklären lassen müsse und eben nicht mit Natur, Gott, Wesen etc.

Erst dieser Erklärungsanspruch bringt ein revolutionäres Subjekt hervor. Die Revolution ist möglich, weil das Denken in der Lage war, die Herrschaft als menschliches Verhältnis, als gesellschaftliche Praxis zu durchschauen. Bekanntlich fand die Revolution nicht statt, auch wenn sie objektiv möglich war. Das erklärte etwa Georg Lukács 1923 prominent damit, dass es an den subjektiven Bedingungen liegen müsse, am Klassenbewusstsein. Lukács verstand es als Resultat gesellschaftlicher Entfremdung, dass Individuen sich nicht mehr einer Klasse zugehörig fühlten. Man müsse genau deswegen aber an der Klassenpolitik festhalten, deren Richtigkeit dann die Revolution beweisen würde. Eine solche Entfremdungskritik muss aber die kapitalistische Klassengesellschaft als eine alles bestimmende Totalität voraussetzen und läuft damit selbst Gefahr, Verdinglichung zu sein.

Diese abstrakte Annahme der Gesellschaft kritisierte schon Theodor W. Adorno in den 1930er Jahren und sah genau darin die Ähnlichkeit zum kriselnden bürgerlichen Denken und der Metaphysik. Es unterstellt einen höheren Sinn, inneres Wesen oder irgendetwas, von dem aus sich alles erklären ließe, ohne selbst erklärbar zu sein. Dass diese Abstraktheit aber einen politischen Unterschied, wie man so schön sagt, ums Ganze macht, zeigte Adorno in Hinblick auf die Analyse des Faschismus: Dieser wurde gemeinhin mit einer Massenpsychologie erklärt, also mit einer Art Herdentrieb, auf den Individuen in gesellschaftlichen Krisensituationen zurückfallen würden. Auf diese Weise würde aber gar nicht erklärt, warum Menschen zu so einem Verhalten tendieren sollten, ihre individuelle Freiheit in der Masse aufzugeben. Die Masse wurde vorausgesetzt, mit der sich die gesellschaftliche Bewegung erklären lassen sollte.

Für Adorno war diese Verkürzung kein Zufall. Das abstrakte Denken ist objektive Gedankenform der Tauschgesellschaft, die alle konkreten Gebrauchswerte auslöscht und austauschbar macht. Dem abstrakten Denken ist die materielle Wirklichkeit so egal wie dem Kapitalismus das Elend, das zur Warenproduktion notwendig wird. Dagegen bemühte sich Adorno um eine möglichst konkrete Bestimmung der Gesellschaft: Er analysierte die Verfasstheit der Individuen und zog aus deren Zustand Rückschlüsse auf die Gesellschaft. In seinen »Minima Moralia« beschrieb er die totale Negation der bürgerlichen Subjektivität, die er empirisch in den Studien zum autoritären Charakter nachweisen konnte. Sein berüchtigtes Diktum »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen« meinte einfach die Tatsache, dass das bürgerliche Leben, das sich alle einredeten, nicht mehr existierte. Und das galt ihm als Beweis der total verwalteten Welt.

Lukács selbst hatte Adorno vorgeworfen, sich als bürgerlicher Philosoph in einem »Grand Hotel Abgrund« eingerichtet zu haben, weil er mit seinem scheinbaren Festhalten an liberaler Subjektivität Klassenverrat beginge. Was Adorno aber leistete, war genau ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen Klassenreduktionismus und liberaler Apologie. Er setzte weder abstrakt den Kapitalismus als alles entfremdende Klassengesellschaft voraus, noch glaubte er daran, dass die Idee von Freiheit und Gleichheit in der liberalen Demokratie bereits verwirklicht sei. Stattdessen analysierte er konkret, welche Gesellschaft diesen schier unüberwindlichen Widerspruch überhaupt erst ermöglicht.

Eine solche konkrete Analyse der gesellschaftlichen Totalität ist die Grundlage für ein solidarisches Handeln, das Identitätspolitik dafür anerkennen und kritisieren kann, dass diese die realen Kämpfe der Subjekte ausdrückt, aber nicht aufheben kann. Weil diese Analyse nicht geleistet wird, bleibt die Linke sprachlos oder verfällt in abstrakte Kapitalismuskritik.

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