- Kultur
- Schreibende Arbeiter
Als die DDR Literaturklub wurde
Anne M. N. Sokoll hat das Referenzwerk zu den Zirkeln schreibender Arbeiter geschrieben
Kunst und Literatur von BRD und DDR unterscheiden sich scharf durch ihr jeweiliges Verhältnis zur Produktion. Die konkrete Arbeit, die der Westler schamhaft versteckt, setzt der Ostler in Szene. Propagiert wurde das in der DDR auf dem Bitterfelder Weg und mit seinen Zirkeln schreibender Arbeiter; eine Propaganda, in der Arno Schmidt eine »Diffamierung« des Berufsschriftstellers erblicken wollte. Die Literaturpolitik der DDR sei ein »anmaßend geführter Arbeiter- und Bauernkrieg gegen die Phantasie«. Den aus Bitterfeld hervorgegangenen Zirkeln hat Anne M. N. Sokoll nun eine Untersuchung gewidmet, die schon jetzt ein Referenzwerk genannt zu werden verdient.
Im Westen gab es die Dortmunder Gruppe 61 und (ab 1970) den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, doch das waren von der Elite mit Hohn besprenkelte Mauerblümchen. Der verdienstvolle Werkkreis etwa verfügte auf seinem Höhepunkt in der BRD, Österreich und der Schweiz über zusammen 450 Mitglieder, während sich den Schreibzirkeln der viel kleineren DDR von den 60ern bis in die 80er Jahre relativ konstant zwischen 2000 und 2500 Werktätige angeschlossen hatten. Einer der aktivsten der rund 200 bis 250 Zirkel, der von den VEB Leuna-Werken, brachte allein fünf Bücher und Hunderte kleinere Veröffentlichungen hervor. Die tägliche Arbeit war darin, neben der Völkerfreundschaft, also dem Internationalismus, das Hauptthema. Dagegen wurde die Produktionssphäre im Westen ausgeblendet. In Film und Fernsehen kam sie, wie schon der Filmemacher Harun Farocki klagte, äußerst selten vor, in der Kunst gar nicht, und auch die Literatur schwebte meist in höheren Gefilden. Bei Arno Schmidt lesen wir unter anderem von seinem heldenhaften Kampf gegen ungebildete Bauern.
Die unterschiedliche Weltsicht erklärt sich aus der unterschiedlichen Ideologie. Die DDR-Führung griff in ihrem sozialistischen Selbstverständnis unter anderem auf Wilhelm Weitling zurück, der in seiner Zeitschrift »Die junge Generation« (1842/43) Arbeiter, Bauern und Tagelöhner dazu aufrief, von ihrem Alltag zu erzählen. Noch in lebendiger Erinnerung war die Arbeiterkorrespondenzbewegung, die in den 1920er Jahren Proletarier zum Schreiben animierte. Der Schriftsteller Otto Gotsche, Leiter des Sekretariats von Walter Ulbricht, war aus dieser Bewegung hervorgegangen. Er gilt als eine der treibenden Kräfte hinter den Schreibzirkeln, die sich nach der ersten Bitterfelder Konferenz (April 1959) formierten.
Die Konferenz war zunächst als Autorentagung des Mitteldeutschen Verlags geplant und wurde von der Staatsführung kurzfristig umfunktioniert. Auf einmal ging es nicht mehr nur um die Literatur der Professionellen, sondern auch um die der Laien, nicht mehr nur um Literatur, sondern auch um Kunst und Kultur. Ulbricht und Gotsche stellten sich vor, dass sich die Schriftsteller und Künstler dahin begeben, wo ganz gewöhnliche Menschen arbeiten und leben - tatsächlich folgten von Adolf Endler über Brigitte Reimann bis Christa Wolf etliche dieser Empfehlung -, außerdem, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst zu schreiben und zu malen beginnen und aus ihnen einmal große Künstler hervorgehen, schließlich gelte es, mit Ulbricht, »die schöpferischen Anlagen des Menschen im Sozialismus zu entfalten«. Das waren vollmundige, wenn auch keine eitlen Reden; der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund sorgte bald für Orte, Finanzierung, Weiterbildung.
Dass damit auch Menschen an den Staat gebunden werden sollten - später hieß es sogar, in den Zirkeln müssten SED-Parteigruppen gebildet werden -, versteht sich von selbst. Die DDR war in ideologischen Dingen nie so verklemmt wie die BRD. Und es versteht sich auch, dass nicht alle hochfliegenden Pläne aufgehen konnten. Volker Braun und Lutz Seiler gehören zu den Schriftstellern, die in den Zirkeln begonnen haben, doch die meisten Schuster blieben bei ihren Leisten. Auch schrieben die Arbeiterinnen und Arbeiter zu Beginn doch lieber verträumte Heimat- und Liebesgedichte als »operative« Literatur und mussten erst behutsam aufgeweckt werden. Aber die »Literaturgesellschaft«, von der Johannes R. Becher geträumt hatte, nahm doch Gestalt an, allein schon in den Gesprächen, die in den Zirkeln geführt wurden, und in den Verbindungen, die zwischen Intellektuellen und Proletariern, zwischen Kultur und Produktion entstanden.
Anne M. N. Sokoll lässt auf fast 500 eng bedruckten Seiten keinen Beschluss, keine Regelpoetik, keine Statistik aus. Was ihrer Studie fehlt, ist Fleisch. Wie lief so ein Zirkelgespräch ab, wie sah die Praxis aus, was wurde geschrieben?
Diese Lücke füllt Rüdiger Bernhardt, als Leiter des Leunaer Zirkels von 1966 bis 2008 selbst ein Praktiker, mit seinen Publikationen, die eine sinnvolle Ergänzung zu Sokolls wuchtigem Werk abgeben. Zirkel haben die DDR vereinzelt überlebt, hießen dann aber, wie im Westen, »Werkstätten« und waren als Freizeitaktivitäten kaum noch ins kulturelle oder gesellschaftliche Leben integriert. Die Literaturgesellschaft verlor sich in einer zunehmenden Arbeitsteilung und am Ende in der Isolierung des einen vom andern.
Anne M. N. Sokoll: Die schreibenden Arbeiter der DDR. Zur Geschichte, Ästhetik und Kulturpraxis einer »Literatur von unten«. Transcript, 493 S., br., 50 €.
Rüdiger Bernhardt: Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg. Die Bewegung schreibender Arbeiter - Betrachtungen und Erfahrungen. Neue Impulse, 353 S., br., 19,80 €.
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