- Politik
- Abzug aus Afghanistan
Schutz für afghanische Helfer gefordert
Appell an Bundesregierung, Angehörigen sogenannter Ortskräfte Einreise nach Deutschland zu ermöglichen
In den kommenden Wochen steht der komplette Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan an. Zugleich verschärft sich die Sicherheitslage zusehends. 26 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Kabul eroberten Taliban in der vergangenen Woche einen Bezirk, der zuvor von der afghanischen Armee gehalten wurde. Immer wieder erschüttern Anschläge auf die Zivilbevölkerung das Land. Eine besondere Bedrohung stellt der Truppenabzug für jene Afghan*innen dar, die als Dolmetscher*innen, Wachleute oder Hilfskräfte mit den internationalen Truppen zusammengearbeitet haben. Sie gelten als Kollaborateure. Eine Initiative von Akteur*innen aus der Friedens- und Konfliktforschung, Politiker*innen, Journalist*innen sowie ehemaligen deutschen Militär- und Polizeikräften fordert deshalb in einem am Freitag öffentlich gemachten Appell, ihnen schnell und unbürokratisch Asyl zu gewähren.
Vor dem Camp der Bundeswehr im afghanischen Masar-e-Sharif protestierten zuvor bereits Mitarbeiter*innen, die kein Asyl erhalten haben. Die Initiative, die unter anderem von Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network, unterstützt wird, kritisiert, dass nach dem Abzug der Nato-geführten Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF 2014 nur 15 Ortskräften Asyl gewährt worden ist. US-Quellen, die die Initiative anführt, gehen von seither mindestens 300 getöteten Ortskräften aus.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Bürokratie
Bei der Vorbereitung des ISAF-Abzuges 2014 reduzierte die Bundeswehr die Zahl ihrer afghanischen Mitarbeiter*innen sehr schnell. Als sie Anfang Juli 2014 wie üblich an ihrem Arbeitsplatz erschienen, wurden sie von ihrer geplanten Kündigung in Kenntnis gesetzt. Unter ihnen auch die 27-jährige Palwascha T., die als Journalistin in einem deutsch-afghanischen Projekt arbeitete.
Bis zum Mittag waren an jenem Tag alle Formulare abzuarbeiten, das Arbeitsverhältnis wurde beendet. Aus Sicherheitsgründen, wurde den verbliebenen Ortskräften vermittelt, damit keine der betroffenen Personen in einen Loyalitätskonflikt geraten und zum Problem für das Militär werden könne. In den Wochen danach wird Palwascha T. bedroht. Ihr Name und ihr Gesicht sind aus der Arbeit mit den Militärmedien bekannt. Die Bundeswehr erfährt von den Drohungen, unternimmt jedoch nicht rechtzeitig etwas. Einen Tag, bevor T. zu einem Gespräch mit Bundeswehr-Verantwortlichen über die Bedrohung erscheinen soll, wird sie ermordet. Bundeswehr und Auswärtiges Amt wachen auf, holen eine Reihe von ebenfalls bedrohten Mitarbeiter*innen nach Deutschland.
Die Bürokratie, die Ortskräften zugemutet wird, entspricht deutschen Standards – und zeugt von Naivität. So sollten sie nachweisen, dass sie bedroht werden. Dazu sollen sie die afghanische Polizei aufsuchen, die aufgrund der schlechten Bezahlung als hochgradig korrupt gilt. Das bisherige Verfahren sei »viel zu zeitintensiv«, moniert die Initiative, zumal die Kapazitäten des deutschen Kontingents »mit dem beginnenden Abzug Woche für Woche schwinden«.
Unklare Zahlen
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) betonte vor einigen Tagen in der ARD: »Ich finde, dass wir als Bundesrepublik Deutschland eine hohe Verpflichtung gegenüber diesen Menschen haben. Sie haben mit uns gemeinsam teilweise über mehrere Jahre in diesem Einsatz gestanden. Sie sind ganz sicher gefährdet.« Doch wie viele Ortskräfte die Bundeswehr in den 20 Kriegsjahren beschäftigt hat, scheint schwer zu ermitteln. »Es sind etwa 300 Kräfte, die derzeit beschäftigt sind. Die Gesamtzahl müsste ich auch nachrecherchieren«, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums im April in der Regierungspressekonferenz. Mitarbeiter*innen könnten bis zu zwei Jahre nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses einen Asylantrag einreichen und sich auf ihre vormalige Tätigkeit für die Bundeswehr berufen.Über die genauen Zahlen will die Bundeswehr dann aber doch keine Aussage treffen. Vorgeblich geht es wieder um Sicherheitsaspekte. Auch der Datenschutz habe dazu geführt, dass Zahlen zu beendeten Arbeitsverhältnissen mittlerweile nicht mehr vorlägen. Nach einigen Tagen der internen Beratung heißt es dann Anfang Mai aus dem Ministerium: »Mit Blick auf die Zahlen von Ortskräften insgesamt können wir keine Auskünfte geben, weil wir dafür nicht federführend sind. Da würde ich dann das Innenministerium und gegebenenfalls auch das Auswärtige Amt bitten, diese Zahlen zur Verfügung zu stellen.«
Nicht nur Bundeswehrkräfte
Als Kollaborateure sehen Taliban unterdessen nicht nur Bundeswehr-Beschäftigte an, sondern auch jene Afghan*innen, die etwa für das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit BMZ arbeiteten. Nach BMZ-Angaben waren zwischen 2011 und 2020 teilweise bis zu 1750 Ortskräfte in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan beschäftigt. Aktuell sind für das BMZ demnach in rund 40 Projekten knapp 1100 Ortskräfte tätig. Über eine Risikoanalyse und ein Managementsystem bewerte man die Sicherheitslage permanent, so das BMZ.
Die Initiative fordert angesichts der zunehmenden Gefährdung der Beschäftigten, in den verbleibenden Wochen bis zum Truppenabzug müsse eine »unbürokratische Prozedur für all die Ortskräfte und ihre Angehörigen« umgesetzt werden, »die für deutsche Stellen gearbeitet haben«.
Offenlegung: Daniel Lücking war zwischen 2005 und 2008 für die Bundeswehr in Afghanistan in einem Medienprojekt als Offizier tätig und zählt zu den Erstunterzeichnenden der Initiative. Auch Thomas Ruttig schreibt als Autor für nd.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.