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Hoffnungsschimmer Impfpieks
Vor den Praxen niedergelassener Ärzte bildeten sich am Montag erneut lange Warteschlangen
Wer sich in den Warteschlangen umhört, die sich vor einzelnen Praxen in Nord-Neukölln und Kreuzberg am Montagvormittag bilden, bekommt Ähnliches berichtet. Da ist die Rede von »Recherchen im Internet«, von »Tipps von Freunden« oder »Tipps, wo man sich frühzeitig anstellen kann, in der Hoffnung auf eine Impfung«. Andere sagen, »dass sie keine Hoffnung haben, über Wartelisten dranzukommen«. Viele könnten umsonst anstehen. Wie die Senatsgesundheitsverwaltung und die Kassenärztliche Vereinigung Berlin am Montag bekanntgab, gelte in den Berliner Arztpraxen weiter die festgelegte Impfreihenfolge – allen vorherigen Ankündigungen zum Trotz. Allerdings dürften Haus- und Facharztpraxen seit Montag von der vorgeschriebenen Reihenfolge abweichen, wenn sie ihre Impfdosen nicht für priorisierte Gruppen verbrauchen könnten. Kurzum: Die Verwirrung ist mal wieder groß.
Der Arzt Michael Janßen betreibt eine Gemeinschaftspraxis in Neukölln. »Es verstärkt sich jetzt, was wir vor ein paar Wochen mit der Priorisierung drei schon hatten«, sagt der Allgemeinmediziner zu »nd«. Nämlich: »einen Ansturm« auf die Arztpraxen und Impfzentren. Janßen ist Vorstand im Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, einem ärztlichen Berufsverband, »der sich als kritische und progressive Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht«.
- Berlins Gesundheitsämter sollen vor dem Hintergrund der anhaltenden Corona-Pandemie mehr Personal bekommen. Dafür sind für das laufende Jahr 17.393.750 Euro vorgesehen, wie die Senatsverwaltung für Gesundheit am Montag mitteilte. Für die Nachverfolgung von Kontaktpersonen gebe es weiterhin einen hohen Personalbedarf.
- Bisher werden die Gesundheitsämter der zwölf Bezirke dabei durch Einsatzkräfte der Bundeswehr, vom Robert Koch-Institut gestelltes Personal und abgeordnete Mitarbeiter der Bundes- und Landesbehörden unterstützt. In Zukunft sollen die Gesundheitsämter das Personal für die diese Aufgabe selbstständig stellen und finanzieren können, so die Gesundheitsverwaltung. Sie habe die entsprechende Summe deshalb beim Abgeordnetenhaus beantragt, der Hauptausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses habe dem Antrag am vergangenen Mittwoch zugestimmt. Die Gesundheitsämter müssten diese Hilfestellung nutzen, um notwendige attraktive Stellen auszuschreiben und zu besetzen, sagte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD). dpa/nd
Anders als die Impfwilligen, die sich auf gut Glück in die Warteschlangen einreihen, waren 13 000 Neuköllner am vergangenen Wochenende zwar ebenfalls ohne Termin, aber explizit aufgefordert, sich in der Turnhalle der Schule in der Köllnischen Heide impfen zu lassen. Hier hatten die Senatsverwaltung für Gesundheit und das Bezirksamt Neukölln kurzfristig ein Impfangebot in Kiezen mit hohen Ansteckungszahlen gestartet. Von »einem vollen Erfolg« spricht Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) am Montag. »Um die 2300 Dosen konnten in den drei Tagen verimpft werden«, so Hikel zu »nd«.
Anwohner der High-Deck-Siedlung, der Weißen Siedlung und des südliche Kiehlufers waren über Aushänge und über Sozial- und Bildungseinrichtungen informiert worden. »Trotz der Kurzfristigkeit machten Hunderte davon Gebrauch«, sagt Hikel. »Die ersten waren Freitag bereits schon um sechs Uhr vor Ort.« Kurzfristig habe man wegen der großen Nachfrage die Impfdosen von 400 auf 800 erhöhen können. Geimpft wurden Vakzine der Hersteller Moderna und Johnson & Johnson.
Zufrieden mit der ersten Schwerpunktimpfung in Berlin ist auch der Neuköllner Amtsarzt Nicolai Savaskan. »Die Massenimpfung in Neukölln war ein guter Aufschlag«, sagt er. »Wir haben vor allem die Menschen erreicht, die schon gut informiert waren.« Das sei gut, denn diese seien nun wie »Schutzschilde« in ihren Wohnquartieren. Letztlich hätten aber nur rund ein Fünftel aller Eingeladenen das Angebot angenommen. Unterrepräsentiert gewesen seien zudem türkisch- oder arabischstämmige Berliner, dagegen hätte man deutlich mehr Menschen mit Englisch oder Spanisch als Muttersprache erreicht.
Eine Beobachtung, die der Arzt Michael Janßen bestätigt. Er war am vergangenen Wochenende ebenfalls vor Ort. »Eine sicher sinnvolle Aktion, die aber noch zu hochschwellig für stark vulnerable Gruppen ist«, sagt der Mediziner. Janßen spricht sich dafür aus, »auch über lokale Initiativen, Nachbarschaftsläden oder Moscheen noch näher ran an die Menschen zu gehen«. Der Vorschlag findet bei Bezirksbürgermeister Hikel durchaus Zustimmung. »Ich bin dafür, noch dezentraler und niedrigschwelliger zu agieren.« Voraussetzung sei aber, dass genügend Impfstoff vorhanden ist, so der SPD-Politiker.
Privilegiert durch die Coronakrise
Ob die Verteilung von Impfterminen oder die Kinderbetreuung im Lockdown – der Staat wälzt die Verantwortung in der Coronakrise zu oft auf den Einzelnen ab, kritisiert Robert D. Meyer.
Unterdessen ächzen die Arztpraxen nach der Aufhebung der Priorisierung unter dem Ansturm der Impfwilligen und beklagen, dass der Impfstoff eben immer noch nicht in genügendem Maße bereitsteht. »Es ist zu befürchten, dass sich Leute vordrängeln, die noch gar nicht dran sind«, sagt Allgemeinmediziner Janßen. Er berichtet von unzähligen Anfragen per E-Mail oder Telefon. »Es gibt schon einen Wettbewerb und eine Drängelei.« Es gibt eine Gruppe von Menschen, die die Impfung unbedingt haben will. So berichten »nd« die einen über »Bekannte, die in einer Arztpraxis als Sprechstundenhilfe arbeiten und so auf eine Warteliste gesetzt werden«, andere, dass sie »von befreundeten Ärzten mit Resten geimpft wurden« oder »dass der Hausarzt etwas übrig hat, weil sich keiner mit Astra-Zeneca impfen lassen wollte«. In Internetforen kursieren seit Wochen immer wieder Namen von Praxen, die angeblich ohne Termin impfen.
»Da kann es passieren, dass aus der Gruppe der durchsetzungsfähigen Mittelklassemenschen mehr Menschen geimpft werden«, kritisiert Allgemeinmediziner Janßen. »Das sind in der Regel, wenn man es mal sozial aufblättert, keine Menschen, die eine hohe medizinische Bedürftigkeit haben und die auch ansonsten nicht gefährdet sind.« Andere wiederum, die diese Möglichkeit nicht haben, bleibt unterdessen nur eines: geduldig zu warten. Sorgen macht sich der Mediziner aber weiterhin vor allem um die vulnerablen Gruppen, »die man aufsuchen muss, wo man eventuell mobile Impfteams in den Kiezen braucht, wo man intensivere Aufklärungsarbeit mit Dolmetschern machen und Überzeugungsarbeit leisten muss«.
Ungeimpft im Heim
Flüchtlingsunterkünfte ohne Schutz vor Corona
Ernüchternd dann auch Janßens Zwischenbilanz: »Als Linker muss man sagen, es ist wie immer: Die armen Leute, die in prekären Verhältnissen Leben, die der Kultur und Sprache nicht mächtig sind, fallen hinten rüber, und diejenigen, die die Ellenbogen haben, sich durchsetzen können, die haben die Vorteile.«
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