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Brüchige Individuen

Ein Gespräch mit der Soziologin Emma Dowling über verkörperte Widersprüche, Klassenfragen und die feministische Hoffnung auf ein Ende der Ausbeutung

  • Sigrun Matthiesen
  • Lesedauer: 9 Min.

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie gilt: Eine Videokonferenz von 100 Menschen ist sicher, aber einmal die falsche Person umarmen kann tödlich sein. Wird Körperlichkeit noch stärker individualisiert, als wir es bisher gewohnt waren?
Der Grundwiderspruch, der uns gerade massiv auffällt, ist: Wir sind keine abgeschotteten Körper, sondern wir brauchen einander, sind aber – gerade im Kontext einer Pandemie – auch Risiko füreinander. Das meint nicht nur Pflege und Betreuung, sondern Menschen kommen auch zusammen, um zu kooperieren, zu arbeiten. Und der menschliche Körper braucht auch Berührungen und die Anwesenheit anderer, um emotionale Bedürfnisse zu befriedigen. Gerade in linken, feministischen Kreisen wurde das schon lange thematisiert als Widerspruch eines Kapitalismus, der individualisiert und ideologisch auch an einer Autonomie des Individuums ausgerichtet ist, und gleichzeitig der Realität von Interdependenz und Vulnerabilität. Darin gibt es verschiedene Bewältigungsstrategien. Eine ist, in der aktuellen Covid-Krise, die Retraditionalisierung von Rollen- und Familienverhältnissen. Die Familie, der eigene Haushalt als Schutzeinheit, dass Reproduktionsarbeit wieder überwiegend von Frauen übernommen wird, wie mittlerweile viele Studien gezeigt haben.

Die Verlagerung ins Digitale, von Unterricht, Arbeitsbesprechungen, aber auch Spielrunden und Chorproben – also Aktivitäten zuvor kollektiv körperlich Anwesender –, ist eine andere Bewältigungsstrategie.
Ja, und Menschen beklagen auch schon die körperlichen Symptome: Zoom-Kopfschmerzen, Screen-Time-Migräne, und wir bewegen uns jetzt alle nicht genug, bekommen nicht ausreichend frische Luft. Zusätzlich gibt es in diesen virtuellen Räumen auch eine deutliche Intensivierung von Arbeit, weil das ganze soziale Drumherum wegfällt, oder auch die körperliche Mobilität, mit der ja auch Arbeitspausen verbunden waren. Jetzt kann ich mit von neun bis zehn mit der einen Person treffen und muss dann nicht an einen anderen Ort laufen, sondern schalte nahtlos ins nächste Video-Meeting.

Was ist mit all der Arbeit, die nicht am Computer gemacht werden kann? Mein Eindruck ist, körperliche Arbeit wird, aus Angst vor dem Infektionsrisiko, gesellschaftlich noch weiter abgewertet.
In einer Wirtschaft, die kognitive und nicht-kognitive Fähigkeiten hierarchisiert, werden Körperlichkeit und körperliche Tätigkeiten natürlich untergeordnet. Nichtqualifizierte Arbeit wird häufig darüber definiert, dass dabei »nur« der Körper zum Einsatz kommt und Tätigkeiten ausgeübt werden, die jede:r machen könnte. Mann oder Frau benötigt keine besondere Qualifizierung und musste nicht jahrelang in eine Ausbildung investieren.
Da gibt es aber auch Brüche: Wenn ich mir das Gehalt eines Spitzenfußballers oder eines Popstars vor Augen führe, gibt es offenbar bestimmte sehr intensive körperliche Arbeit, die als hochqualifiziert angesehen wird. Es geht also bei der Bewertung von Arbeit nicht nur um den Gegensatz »körperlich« versus »intellektuell«, sondern um die Kosten von Qualifizierung. Dort, wo die so niedrig sind, dass menschliche körperliche Arbeit günstiger ist als Automatisierung, wird weiter auf sie zurückgegriffen. Damit geht dann auch wieder einher, gerade für die Pflege kann ich das sagen, weil ich mich damit beschäftigt habe, dass auch innerhalb dieser Berufsgruppe wieder danach sortiert wird, was sie eben qualifiziert oder weniger qualifiziert. Gerade diese Frage, ob Pflege nicht aus komplexen Tätigkeiten besteht, für die alle möglichen Kompetenzen und Fähigkeiten nötig sind, das ist ja auch etwas, was politisch zur Debatte steht.

Diese Debatte flammt ja auch immer mal wieder auf, aber gibt es wirklich Solidarität mit Pflegenden oder anderen abgewerteten Berufsgruppen oder entpuppt sich die zur Pandemiebekämpfung empfohlene soziale Distanzierung vor allem als Abgrenzung von anderen sozialen Klassen?
Zur Pandemiebekämpfung gibt es seitens der Politik ja so ein unausgesprochenes Versprechen: Wenn wir uns an die Regeln halten, werden wir die wirklich notwendigen Sachen, die wir für unseren Alltag brauchen, noch machen und eben auch auf einem hohen Level konsumieren dürfen. Das ist der Deal – und da ist dann eben die Frage, wer sorgt dafür, dass dieser Deal eingelöst werden kann? Darüber gibt es durchaus ein Erkennen, was die eigentlich lebenserhaltenden Tätigkeiten sind – diesen Begriff finde ich hilfreicher als »systemrelevant«. Aber die Frage, wo aus dieser Erkenntnis mehr als eine symbolische oder diskursive Anerkennung folgt, ist noch offen. Wird jetzt wirklich solidarisch für eine Verbesserung von Arbeitsverhältnissen gekämpft? Wird es wirklich eine materielle Aufwertung auch von Pflege geben, dadurch, dass Arbeitsbedingungen, Betreuungsschlüssel und nicht zuletzt Bezahlung verbessert werden? Das kann ich noch nicht abschließend sagen, aber momentan scheint es über eine symbolische oder diskursive Solidarität nicht hinauszugehen.

Eine andere Gegenüberstellung, die durch die Pandemie neu aktualisiert wurde, ist die zwischen dem vertrauten und vertrauenswürdigen Körper versus dem fremden, gefährlichen Körper. Das wiederum ist extrem anschlussfähig an rassistische Diskurse. Inwiefern werden diese dadurch verstärkt?
Ich glaube, dass durch diese kulturalistischen Zuschreibungen etwas aufgerufen wird, was vorher schon kursierte. Aber dagegen gab und gibt es auch Protest, in Österreich beispielsweise, als von Sebastian Kurz letzten Sommer suggeriert wurde, steigende Ansteckungszahlen würden durch Menschen, die in ihren Herkunftsländern Urlaub machten, »eingeschleppt«, wurde das sofort von anderen Parteien wie Grünen und SPÖ, wie auch von der Zivilgesellschaft, kritisiert. Es gibt Anhänger:innen solcher Diskurse, aber es gibt auch Gegenstimmen.
Das andere ist natürlich, das Angewiesensein auf migrantische Arbeitskräfte, zum Beispiel in der 24-Stunden-Betreuung für pflegebedürftige Menschen, wo schnell Sonderregelungen gefunden wurden, damit sie einreisen konnten. Aber die strukturelle Diskriminierung, die zur Ausbeutbarkeit dieser Arbeitskraft gehört, die wird nicht thematisiert. Darin sehe ich das größere Problem, das eben auch nicht diskutiert wird, die Ungleichheit von Lohnverhältnissen.

Am Anfang der Pandemie hat uns das Virus ja erschreckend bewusst gemacht, dass wir alle vulnerable Körper sind. Aber es ist überhaupt nicht gelungen, daraus einen politischen Ansatz zu entwickeln. Eigentlich hätten wir doch alle massiv auf die Straße gehen müssen und für die Pflege streiken, für ein Gesundheitswesen, das uns besser schützen kann in unserer Verletzlichkeit.
Vulnerabilität wird immer auch gesellschaftlich einerseits produziert und anderseits auch eingefangen. Weshalb eben noch nicht mal alle Körper vor dem Virus gleich sind, Stichwort Vorerkrankungen, Alter und dass wir aufgrund ökonomischer Bedingungen dem Virus unterschiedlich ausgesetzt sind. Das führt zu unterschiedlichen Erfahrungen, unterschiedlichem Risiko, unterschiedlicher Verletzlichkeit. Diverse Studien, vor allem aus den USA und Großbritannien, belegen mittlerweile große Unterschiede in der Mortalitätsrate für verschiedene ethnische Herkunftsgruppen. Das hat einerseits mit der Verknüpfung von Ethnizität und Armut zu tun, aber auch mit Zugang zu Gesundheitssystemen. All diese Ungleichheiten – in den USA und Großbritannien ausgeprägter als in Deutschland – machen deutlich, wie Vulnerabilität, Ökonomie und Gesellschaft zusammenhängen.
Besonders in Bezug auf die Gesundheitssysteme wurde allerdings der Status quo sehr schnell als objektive Verhältnisse akzeptiert und nicht mehr als etwas problematisiert, das ursächlich mit der Finanzierung zu tun hat. Die Frage danach, ob denn ein gut ausgestattetes Gesundheitssystem besser in der Lage ist, die Pandemie zu bewältigen, wird kaum gestellt. Da ist auch wieder Großbritannien ein gutes Beispiel: Es ist kein Zufall, dass es bei der Krankheitsbekämpfung unglaublich schlecht dagestanden hat und andererseits jetzt die Impfkampagne gut hinbekommt. Durch Finanzierung der Forschung und der Pharmaindustrie und eine zentralisierte Logistik kann eine Massenimpfung gut organisiert werden. Aber ein adäquates Pflege- und Gesundheitssystem, das ein großer Kostenfaktor wäre und vergleichsweise wenig Profit generiert, das stellt sich schwieriger dar.

Folgt daraus nicht zwangsläufig ein Interesse an größtmöglicher »Entkörperlichung«, also der Übernahme von Tätigkeiten durch Technologie, deren Reparatur billiger ist als die Reproduktion der Menschenkörper? Oder organisiert sich auch und gerade der »Online-Kapitalismus« ein wachsendes Heer an ausbeutbaren, prekär beschäftigten Körpern, für deren Erhalt und Pflege er sich aber immer weniger zuständig fühlt?
Das ist ja eine der Triebkräfte des Kapitalismus, dieser Widerspruch zwischen Angewiesensein auf menschliche Arbeitskraft und gleichzeitig immer wieder dem Versuch, nicht nur die Kosten der Reproduktion dieser Arbeitskraft niedrig zu halten, sondern sich überhaupt zu befreien von der Notwendigkeit menschlicher Arbeit. Als Konsument:innen verspricht uns die neoliberale Ideologie ja auch Befreiung: Von den Grenzen des Körpers, den Schwierigkeiten unser sozialen Beziehungen, den Komplexitäten der Reproduktion. Man kann sich jetzt auch eine Umarmung erkaufen als »cuddle therapy«. Was normalerweise ein Akt der Zuneigung wäre, wird nun als Bedürfnis kommodifiziert, wenn nicht gar pathologisiert: Ohne Berührung werden wir krank, also muss ich jemanden bezahlen, um mich berühren zu lassen. In diesem ganzen Bereich Selbstoptimierung und Selbstfürsorge, die für das vom Neoliberalismus konstruierte Individuum zentral sind, geht es ganz viel darum, »auf den Körper zu hören«. Gerade auch in unsicheren Zeiten, da wir nicht wissen, wem wir vertrauen sollen, vertrauen wir zumindest auf unseren Körper und messen alles Mögliche, was er tut. Am eigenen Körper, der ja von vornherein als fast schon ontologisch unzulänglich definiert wird, lässt sich immer wieder etwas verbessern und dafür auch etwas kaufen.

Lässt sich ein »solidarischer Körper« entwickeln, aus linker feministischer Sicht?
In den Analysen von Silvia Federici ist das immer wieder ein zentraler Punkt, dass diese Vereinzelung Teil von Kontrolle und Disziplinierung ist, und wir dem ein Zusammenkommen entgegensetzen müssen, wenn wir uns nicht spalten lassen wollen. Beim Streik beispielsweise macht man sich ja unverfügbar, also entzieht Arbeitskraft und symbolisiert einen Bruch im System, das eben nicht auf die Arbeitskraft zurückgreifen kann. So was lässt sich möglicherweise virtuell organisieren. Aber wenn Menschen tatsächlich auf die Straße gehen, machen sie körperliche Erfahrungen der Kollektivität, die sie gleichzeitig wiederum als Subjekte prägen: Ich bin danach nicht mehr dieselbe und verhalte mich deshalb vielleicht auch in Alltagssituationen anders. Das sind verkörperte Erfahrungen, die wir mit ganz vielen Sinnen machen, und nicht nur unseren Augen und Ohren.

Wie lassen sich diese ursprünglich linken Protest-Praktiken »pandemiefest« weiterentwickeln, damit sie nicht immer stärker von Rechten »gekapert« werden, die ja nur bestimmte Körper schützen wollen?
Wir dürfen nicht auf diese binären Kategorien »Körper« versus »Intellekt« reinfallen und am Ende einfach nur das Gegenteil des Bestehenden zelebrieren. Da finde ich die Ansätze von Silvia Federici auch ganz nützlich: Es geht darum, sich zu befreien aus der Art und Weise, wie Kontrolle und Disziplin funktionieren, um Ausbeutung zu ermöglichen. Darin ist dann die Frage eingeschlossen, was ein Verhältnis zu unseren eigenen und anderen Körpern wäre, das eben nicht auf Profitabilität und Ausbeutung ausgerichtet ist, stattdessen ermächtigend wäre.

Emma Dowling ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin und lebt derzeit in Wien und Jena. Zuvor lebte sie viele Jahre in London und war dort an verschiedenen Universitäten tätig. Ihr Buch »The Care Crisis – What Caused It and How Do We End It?« erschien im Januar 2021 bei Verso Books. Mit ihr sprach Sigrun Matthiesen.

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