Für ein wirklich neues Deutschland
Petra Pau erklärt die Mühen der Ebenen für eine linke Bundestagsvizepräsidentin
Vorab
Kennen Sie den Abgeordneten Mierscheid? Wissen Sie, warum eine mexikanische Biersorte »Sprühentladung« heißt? Und ahnen Sie, was Gummientchen mit Karl Marx zu tun haben? Dies und mehr Überraschendes erfahren Sie aus den neuen Anekdoten von Petra Pau. Und wie schon ihr erstes Buch hat der neue Band der linken Politikerin einen göttlichen Titel. Weshalb? Auch das wird erhellt - genauso wie die Frage, was im 21. Jahrhundert politisch links ist und wie sich die Digitalisierung auf die Demokratie auswirkt.
Petra Pau, 1963 geboren, arbeitete nach dem Studium als Lehrerin für Deutsch und Kunsterziehung, als Pionierleiterin sowie als Mitarbeiterin des Zentralrates der FDJ. 1992 bis Ende 2001 war sie Landesvorsitzende der PDS. 1990 wurde sie für die PDS Bezirksverordnete in Berlin-Hellersdorf, errang 1995 ein Direktmandat für das Berliner Abgeordnetenhaus und hat 1998 und bei allen folgenden Wahlen zum Deutschen Bundestag ein Direktmandat geholt. Seit 2006 ist sie, für die jeweiligen Legislaturperioden immer wiedergewählt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.
Auf der Leipziger Frühjahrsbuchmesse 2015 habe ich 53 Episoden aus 25 Jahren meiner politischen Tätigkeit vorgestellt - heitere, überraschende, aber auch sehr ernste. Mit ihnen bin ich seither landauf, landab zu Lesungen unterwegs. Längst auch mit neuen Geschichten,… Viele davon präsentiert nun dieses Buch. Ich danke dem Quintus-Verlag. 2020 habe ich etliche Episoden aus den Büchern Gottlose Type und nunmehr Gott hab sie selig digital aufgenommen und als Video ins weltweite Gewebe gestellt. Sie finden diese unter anderen auf meiner Webseite www.petrapau.de. Und doch: Buch bleibt Buch, finde ich. Kleiner Tipp: Stellen Sie sich nur mal vor, Sie verschenken zu einem Geburtstag oder zu Weihnachten einen Link ins Internet. Die Überraschung dürfte riesig sein, die Freude winzig.
Diesseits und jenseits
In der laufenden Legislaturperiode, ich meine 2017 bis 2021, bin ich im Präsidium des Deutschen Bundestages die Dienstälteste. Obendrein war ich lange die Einzige aus dem Osten. Das hätte mir mal jemand prophezeien mögen. Seinen Humor hätte ich am Politischen Aschermittwoch gepriesen. Das Amt der Bundestagspräsidentin bzw. des -präsidenten steht in aller Regel der zahlenmäßig stärksten Fraktion zu. Das ist seit langem die CDU/CSU. Allen anderen Fraktionen gebührt eine Vize-Präsidentin bzw. ein Vize-Präsident. Die jeweils vorgeschlagenen Personen müssen allerdings mit der Mehrheit des gesamten Parlaments gewählt werden, die Stimmen der eigenen Fraktion reichen dafür nicht. Schließlich sollen die Mitglieder des Präsidiums neben anderen Aufgaben auch den gesamten Bundestag im In- und Ausland repräsentieren. Insofern ist unsere Wahl auch ein Vertrauensvorschuss, finde ich. Wir Vizepräsidenten haben unsere Büros übrigens im Jakob- Kaiser-Haus, während der Präsident, derzeit Dr. Wolfgang Schäuble, im ehrwürdigen Reichstagsgebäude residiert. Dazwischen liegt der Friedrich-Ebert-Platz. Auf ihm erinnert ein graues Steinband im Boden daran, wo früher - von 1961 bis 1989 - die Berliner Mauer verlief. Leicht ist so zu erkennen: Das Jakob-Kaiser-Haus steht im einstigen Osten, das Reichstagsgebäude im Westen. Das ist Geschichte und zugleich höchst aktuell. Der Bundestagspräsident ist nämlich auch Dienstherr für einige Tausend Angestellte und Beamte des Parlaments. Da er im West-Haus sitzt, werden diese alle nach Westtarif entlohnt. Würde er im Ost-Gebäude agieren, so bekämen die Beschäftigten des Bundestages Osttarif. Sie müssten also für weniger Geld länger arbeiten. Schwein gehabt in Deutschland einig Vaterland, oder?
Die Letzten und die Ersten
Riverboat ist eine freundliche Talkshow im sächsischen Buntfernsehen. Ende Februar 2015 wurde ich eingeladen. Ich sagte zu. Doch ganz so einfach läuft dies nicht. Zur Vorbereitung bekam ich eine E-Mail mit zwei Dutzend Fragen, die ich umgehend beantworten möge. Eine hieß: Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? Ich weiß es nicht. Aber ich antwortete trotzdem: Mein Handy, die Bibel und einen Allgäu-Krimi. Die Bibel war offenbar das von der Redaktion erhoffte Stichwort. Die Moderatorin ergriff es dankbar. Flugs waren wir mitten im Plaudern über »Gott und die Linke«. Es lief. Bei mehr Sendezeit hätte ich allerdings auch diese biblische Geschichte erzählen können, ja wollen: Der Herr eines Weinberges heuerte dereinst Helfer an und vereinbarte mit ihnen für ihr Tagwerk einen Lohn von einem Silbergroschen. Des Mittags stellte er noch mehr Weinwerker an, vor Sonnenuntergang weitere. Dann zahlte er alle aus, jeweils mit einem Silbergroschen. Prompt kam Unbill auf. Die Ersten murrten wider den Herrn und sprachen: »Diese haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem unter ihnen: Mein Freund, ich tue dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden für einen Groschen? Nimm, was dein ist, und gehe hin! Ich will aber diesem Letzten geben gleich wie dir.« Denn auch er habe Frau, Kind und Familie. »Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.«
Was für eine wunderbare linke Botschaft, biblisch erzählt. Man kann diese uralte Weinberg-Geschichte aus Matthäus 20 nämlich auch als Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen lesen. Primär zählt nicht, wer wie lange für andere malocht, sondern dass alle vor Gott gleich sind oder nach dem Grundgesetz Mensch sein können. Die Letzten wie die Ersten! Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ist umstritten, auch unter Linken. Ich befürworte sie. Demnach bekäme jede und jeder einen Basisbetrag zum Leben in Würde, unabhängig vom Alter oder von Bildung, unabhängig auch davon, ob er oder sie einer Erwerbsarbeit nachgehen kann oder will. Sagen wir aktuell 1 350 Euro im Monat. Ja, das wäre eine kleine Revolution. Eine sehr bekannte Linke wurde jüngst gefragt, ob sie ein bedingungsloses Grundeinkommen befürworten würde. Sie verneinte; gute Löhne für gute Arbeit seien wichtiger. Das eine schließt das andere nicht aus, finde ich. Wichtiger ist etwas anderes. Ein bedingungsloses Grundeinkommen bezieht sich auf die Würde des Menschen, und zwar ausnahmslos aller. Eine gute Vergütung indes belässt Erwerbsarbeit als Dreh- und Angelpunkt.
Preisfrage: Was ist linker, humanistischer, emanzipatorischer? Ein solches Grundeinkommen wäre auch ein Gewinn an Freiheit. Niemand könnte mehr in Arbeit gezwungen werden, die offensichtlich den Stempel »Ausbeutung« trägt. Menschen könnten wägen und wählen, was auch mehr Demokratie bedeuten würde. Hinzu kommt eine rasante Entwicklung. Die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft wird ganze Berufsgruppen auslöschen. Was dann: Elend oder Freiheit? Ein BGE, so die Abkürzung, böte eine positive Antwort. Und doch: Wenn es um die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens geht, höre ich letztlich immer zwei Fragen. Die erste: Wer soll das bezahlen? Dafür gibt es verschiedene Modelle. Die zweite: Wer würde dann überhaupt noch arbeiten? Die ist interessanter. Alle Skeptiker betonen stets: »Ich schon, aber die anderen nicht!« Alle sagen: »Ich würde ja wollen, nur die anderen nicht!« Das Problem aller sind so immer die anderen. Seltsam, nicht?
Halbe-Halbe-Tag
Am 6. September 2017 hatte ich meinen Halbe-Halbe-Tag. Zugegeben: Vordem wusste ich auch nicht, was das sein sollte. Aber ein Freund hat nachgerechnet. An diesem Tag war ich genauso lange Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland, wie ich vordem Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik war. Ich kenne also beide Systeme: den real-existierenden Sozialismus und den real-existierenden Kapitalismus. Mehr noch: Dazwischen gab es eine Zeit, die aus allen Reihen tanzte. Die einen nannten sie »Wende«, andere »Revolution«, manche auch »Konterrevolution«, je nach Blickwinkel. Diese Erfahrung hat mich fortan sehr geprägt. Es war eine Zeit, in der politische Belange öffentlich ausgehandelt wurden, in der Bewegung in scheinbar unverrückbare Machtverhältnisse kam, in der Journalisten ihre gewonnene Freiheit in den Dienst der Aufklärung stellten, in der die Opposition regierte und die Regierung opponierte, in der die Bürgerschaft sehr engagiert war, in der das Politische Hoch-Zeit feierte. Der Runde Tisch ist dafür synonym.
Das alles fand kurioserweise mit der ersten freien, gleichen und geheimen Wahl zu DDR-Zeiten, mit der zur Volkskammer am 18. März 1990, ein abruptes Ende. Der moderne Verfassungsentwurf des Runden Tisches zum Beispiel wurde danach von der Ost-CDU ignoriert, weil die West-CDU ihn nicht wollte. Bei der SPD war es ebenso. In dem Entwurf standen übrigens höchst aktuelle Passagen. Zum Beispiel in Artikel 8: »Jeder hat das Recht an seinen persönlichen Daten und auf Einsicht in ihn betreffende Akten und Dateien. Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung des Berewchtigten dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben werden.« Oder Artikel 43: »Die Staatsflagge [...] trägt die Farben Schwarz-Rot-Gold. Das Wappen des Staates ist die Darstellung des Mottos ›Schwerter zu Pflugscharen‹.« Datenschutz, Abrüstung, soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie - diese Verfassung war als Mitgift des Runden Tisches der DDR für ein wirklich neues Deutschland gedacht. Ein bürgerrechtliches Drängen, das Erinnerung verdient. Bei den üblichen Reden sowie offiziellen Rückblicken auf das Ende der DDR und auf die deutsche Einheit wird all das tunlichst ausgeblendet. Warum wohl?
So viel Marx
Im Frühjahr 2014 bekam ich Post von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Ich möge als Referentin an einer Veranstaltungsreihe »25 Jahre Mauerfall - von der DDR-Historie zur (Erfolgs-) Geschichte der Einheit?!« mitwirken. Als weitere Gesprächspartner dieser Serie sollten unter anderen Hubertus Knabe (damals Direktor der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen), Marianne Birthler (ehemalige Bundesbeauftragte der Stasi-Unterlagen-Behörde) sowie Markus Meckel (letzter Außenminister der DDR) ihre Sicht darstellen. Ich sagte ab. Denn die Absicht der Veranstalter schien mir klar. Das Fragezeichen sollte verschwinden, das Ausrufezeichen erhärtet werden. Sehr simpel, arg brotlos. Drei Wochen später wiederholte die Landeszentrale ihre Anfrage. Ich sagte erneut Nein. Doch die Landeszentrale ließ nicht nach. »25 Jahre Mauerfall - von der DDR-Historie zur (Erfolgs-)Geschichte der Einheit?!«, das sei nur die Ober-Überschrift, schrieb sie. Mein Thema könne ich natürlich selbst bestimmen. Nun sagte ich zu. »Links sein im 21. Jahrhundert« nannte ich mein Angebot. Denn diese Frage beschäftigte mich schon länger. Und so fuhr ich im November 2014 in den Südwesten, nach Freiburg. Was ich wollte, das wusste ich wohl. Aber was erwarteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Abends? Und wen könnte das Thema überhaupt interessieren? Als ich in den Vorlesungssaal der Uni kam, war ich überrascht. Die örtliche Presse schrieb von 200 Anwesenden, die meisten wohl Studentinnen und Studenten, zwei Dutzend waren aber auch reiferen Alters, womöglich auf der Sinnsuche nach ihrem dritten linken Leben. Es war ein bewegter Abend. Es ging nicht um Unsägliches linker Vergangenheit, sondern um eine soziale, gerechte und friedfertige Zukunft, die offenbar nicht nur mir auf der Seele brennt. In einem neuen Jahrhundert, einem entscheidenden! Nach meinem Vortrag meinte der Moderator des Abends: »So viel Karl Marx gab es in dieser Aula lange nicht. Danke Frau Pau.«
Petra Pau
Gott hab sie selig. Neue Anekdoten von anomal bis digital
Quintus Verlag
104 S., kt.; 10,00 €
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.