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Chronik eines weltweiten Versagens
Expertenpanel zeigt schonungslos die Fehler beim Umgang mit der Covid-19-Pandemie auf und verlangt die Stärkung des Multilateralismus in Gesundheitsfragen
Wenn die Weltgesundheitsversammlung in dieser Woche über die Lehren aus der Corona-Pandemie berät, steht sie vor einem Berg von Hausaufgaben: Auf dem Tisch liegt der Abschlussbericht einer Expertenkommission, die im Mai 2020 von der WHO den Auftrag bekam, den weltweiten Umgang mit Covid-19 unter die Lupe zu nehmen. Wie konnte sich ein lokal begrenzter Ausbruch auf einem Tiermarkt in der chinesischen Stadt Wuhan zu einer globalen Pandemie mit bislang 166 Millionen bestätigten Infektionen und fast 3,5 Millionen Todesfällen entwickeln? Und wie lässt sich verhindern, dass sich so etwas wiederholt?
Mit diesen Fragen befassten sich 13 Experten für Infektionskrankheiten und Gesundheitspolitik, Wirtschafts- und Sozialforscher im »Independent Panel for Pandemic Preparedness and Response«. Vor wenigen Tagen stellten sie die Ergebnisse ihrer Untersuchung vor: »Die Beweise, die das Gremium zusammengetragen hat, zeigen, dass ein Ausbruch zu einer Pandemie wurde, weil es eine Vielzahl von Versäumnissen, Lücken und Verzögerungen bei der Vorbereitung und Reaktion gab«, wie es die Co-Vorsitzende Ellen Johnson Sirleaf ausdrückt.
»Das lag zum Teil daran, dass man es versäumte, aus der Vergangenheit zu lernen«, so die Ex-Präsidentin Liberias und Friedensnobelpreisträgerin. Die Kritik an zu zögerlichem Handeln nach den ersten Informationen über das neue Virus Sars-CoV-2 richtet sich vor allem an staatliche Stellen, doch auch die WHO kommt nicht gut weg: »Die Organisation war eindeutig nicht ausreichend in der Lage, einen gefährlichen Ausbruch zu untersuchen, zu bestätigen und dann schnell zu handeln«, so Sirleaf.
Wie es in dem 86-seitigen Hauptbericht mit dem Titel »Covid-19: Make it the Last Pandemic« heißt, war insbesondere der Februar 2020 ein »vergeudeter Monat«. Trotz eindeutiger Warnungen aus der Wissenschaft glaubten viele Länder, dass sie nicht betroffen sein würden, und warteten einfach ab. Als sich das Virus dann unkontrolliert ausbreitete, waren die Gesundheitssysteme vielerorts überfordert.
Es kam zu einem globalen Gerangel um Schutzausrüstung, Therapeutika und andere Vorräte, bei dem »der Gewinner alles bekam«, wie es die Ökonomin Sirleaf ausdrückt. Dies setzt sich derzeit bei Impfstoffen und dem für viele Covid-Patienten überlebenswichtigen medizinischen Sauerstoff fort. Erfolgreich waren hingegen vor allem Länder in Ostasien, die sofort reagierten, gut vorbereitet waren und die lokalen Gemeinschaften durch transparente Kommunikation einbanden.
Trotz solch positiver Beispiele konstatieren die Experten ein grundsätzliches Versagen: Co-Autorin Helen Clark, frühere neuseeländische Premierministerin, spricht von einem »Mangel an globaler Führung und Koordination, wobei geopolitische Spannungen und Nationalismus das multilaterale System schwächten, das eigentlich die Welt schützen sollte«. Die Folgen sind massiv: Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft bis 2025 würden auf 22 Billionen Dollar geschätzt, so Clark.
»Das Versäumnis vieler Länder, in den gerade in Krisenzeiten wichtigen sozialen Schutz zu investieren, hat nicht nur Millionen Menschen getötet, sondern auch dazu geführt, dass sich die Ungleichheiten verschärft haben.« Weitere 125 Millionen Menschen seien in extreme Armut gedrängt worden. Frauen und Mädchen seien unverhältnismäßig stark betroffen: etwa durch die starke Zunahme der häuslichen Gewalt oder früher Zwangsverheiratung.
Doch es gibt auch Lichtblicke, etwa den enormen Einsatz der Mitarbeiter im Gesundheitswesen, wobei aber laut WHO-Schätzung weltweit 115 000 Pflegekräfte Covid-19 zum Opfer fielen. Positiv war hingegen die »beispiellose Geschwindigkeit, mit der das Virusgenom sequenziert und Impfstoffe entwickelt wurden«. Clark: »Die Wissenschaft lieferte, als die Welt sie am meisten brauchte.« Hier setzen auch die Empfehlungen an: Die Wissenschaft hing von der Weitergabe von Daten und Wissen ab, nun müsse auch der Nutzen frei und offen geteilt werden.
Die 92 Länder mit geringem Einkommen müssten über die Covax-Initiative bis spätestens 1. September mit mindestens einer Milliarde Impfstoffdosen und bis Mitte 2022 mit mehr als zwei Milliarden Dosen versorgt werden. Die WHO und die Welthandelsorganisation sollten die wichtigsten impfstoffproduzierenden Länder und Hersteller einberufen, um eine Einigung zu Lizenzvereinbarungen sowie zum Wissens- und Technologietransfer zu erzielen.
Ferner müsse ACT-A, die einzige globale Initiative zur Beschleunigung der Entwicklung, Herstellung und gerechten Verteilung von Covid-19-Tests und Medikamenten, ausreichend von den G20-Staaten finanziert werden. Noch immer sterben täglich mehr als 10 000 Menschen an einer Corona-Infektion; auch deshalb sieht Ellen Johnson Sirleaf dringenden Handlungsbedarf: »Covid-19 darf sich nicht zu einer vernachlässigten Pandemie entwickeln, die in wohlhabenden Ländern unter Kontrolle gehalten wird, während Menschen mit geringeren Mitteln mit Grenzschließungen und jahrelangem Warten auf Impfstoffe konfrontiert sind.«
Die Experten sehen auch die Notwendigkeit struktureller Veränderungen und empfehlen die Einrichtung eines Rates für globale Gesundheitsbedrohungen auf Ebene der Staats- und Regierungschefs. Die WHO sollte ein besseres System zur Krankheitsüberwachung einrichten und die Befugnis bekommen, Ausbrüche schnell auch ohne Zustimmung des jeweiligen Staates zu untersuchen und die Infos zu veröffentlichen. Und es braucht Geld: Über eine »internationale Pandemie-Finanzierungsfazilität« könnten bis zu zehn Milliarden Dollar pro Jahr für Vorbereitungsmaßnahmen verteilt und im Falle einer Krise bis zu hundert Milliarden ausgezahlt werden.
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Im Gesetzergebnis sieht die Expertengruppe ein globales Versagen, woraus sich auch die zentrale Schlussfolgerung ergibt. »Diese Pandemie«, sagt Helen Clark, »hat gezeigt, wie wichtig Multilateralismus, globale Führung und ein gesamtgesellschaftlicher und gesamtstaatlicher Ansatz sind.«
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