- Politik
- Roman Protassewitsch
Minsk erzählt Märchen
Die illegale Festnahme von Roman Protassewitsch ist ein Machtbeweis und eine Botschaft an die Opposition
Roman Protassewitsch hatte wohl etwas geahnt. Als die Boeing 737 der Ryanair von Athen kommend zum Landeanflug auf Vilnius ansetzte, dann aber umkehren musste und unter Begleitung eines MiG-29-Kampfjets nach Minsk dirigiert wurde, soll er in Panik geraten sein. Das passiere wegen ihm, vertraute der prominente oppositionelle Blogger und frühere Leiter des Nachrichtenkanals »Nexta« einem Fluggast an.
Und aller Wahrscheinlichkeit nach war Roman Protassewitsch tatsächlich der Grund für den erzwungenen Kurswechsel. Denn er und seine Freundin, eine russische Staatsbürgerin, die in Vilnius lebt, wurden aus dem Flugzeug heraus verhaftet. Es habe Informationen über eine Bombe an Bord gegeben und Präsident Alexander Lukaschenko habe deshalb den Befehl erteilt, den Flug umzuleiten und zu empfangen, behauptet der regierungsnahe belarussische Telegramkanal »Pul Pervogo«. Offiziell verbreiteten die Behörden, die Besatzung der Ryanair-Maschine habe nach einer Bombendrohung in Minsk zwischenlanden wollen. Nur: Zu dem Zeitpunkt, als die Maschine umdrehte, wäre es nach Vilnius näher gewesen als nach Minsk.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Die Festnahme Roman Protassewitschs ist vor allem eine Machtdemonstration nach dem Motto: Wir kriegen euch, wo immer ihr seid. Ein Jahr nach den Präsidentschaftswahlen sind die Massenproteste abgeflaut, die Führung der Opposition befindet sich im Ausland. Nach wie vor kommt es zwar zu Protesten und immer wieder auch zu digitalen Sabotageakten. Doch das Regime stützt sich auf feste Strukturen, auf die Exekutive, Geheimdienst, Justiz und Strafvollzug. Und im Umgang mit politischen Gegnern gibt es nur mehr eine Sprache: Brutalität, Zynismus und reine Willkür.
Gerade die vergangenen Tage waren für diese Methoden exemplarisch: Erst wurde das einzige verbliebene unabhängige belarussische Nachrichtenportal TUT.by gestürmt und durchsucht. Zahlreiche Journalisten sowie deren Familienangehörige wurden festgenommen. Darunter auch die schwer kranke Witwe des verstorbenen TUT.by-Gründers Jury Zisser.
Diese wurde unter Hausarrest gestellt, obwohl sie mit dem Unternehmen in keiner Weise mehr verbunden ist. Ihrer im Ausland lebenden Tochter wurde es verwehrt, ihre Mutter zu kontaktieren. Dann starb der Oppositionspolitiker Vitold Ashurak unter ungeklärten Umständen in die Haft. Und schließlich die erzwungene Landung eines Flugzeugs zwecks Festnahme von Roman Protassewitsch. Der steht mit den Größen des belarussischen Widerstands auf den »Terroristen-Listen« des belarussischen Geheimdienstes KGB.
Die Machthaber in Minsk werfen Protassewitsch Organisation von Massenunruhen, Handlungen gegen die öffentliche Ordnung sowie Anstiftung sozialer Unruhen vor. In den Minuten vor der Landung in Minsk soll er gesagt haben, dass ihm in Belarus die Todesstrafe droht. Im Januar hatte Protassewitsch in Polen politisches Asyl beantragt. Dabei ist er innerhalb der belarussischen Opposition doch eher ein kleiner Fisch.
Der für seine Festnahme betriebene Aufwand und die damit verbundene Inkaufnahme internationaler Reaktionen wirken folglich wie ein gen Westen ausgestreckter Stinkefinger. Das könnte einen Bruch ohne Wiederkehr markieren. Aber das damit gesetzte Signal erreicht alle Gegner. Gemeint sein dürfte auch die Regierung in Kiew. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass auch russische Dienste involviert waren.
Dafür spricht die Art und Weise der Aktion. Das Vorgehen erinnert an die gescheiterte »Operation Wagner« Ende Juli 2020. Das war der von ukrainischen Diensten eingefädelte Versuch, Söldnern des russischen Militärunternehmens Wagner habhaft zu werden. Der Plan: Während einer Reise von Wagner-Söldnern in einem zivilen Flugzeug sollte in ukrainischem Luftraum ein Fluggast »erkranken« und so eine Notlandung in Kiew nötig machen. Die Angehörigen der Wagner-Gruppe, die in den abtrünnigen Gebieten im Osten der Ukraine aktiv ist, sollten ein wertvolles Pfand in Verhandlungen mit Moskau werden. Allerdings flog die Operation auf, und die russischen Söldner blieben in Minsk.
Vor allem aber ist die Art der Festnahme Protassewitschs eine schallende Ohrfeige für die Opposition und eine knallharte Absage an einen Dialog. Erst vor kurzem hatte die führende Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja vor Journalisten in Wien den Wunsch nach Verhandlungen geäußert. Nun steht man vor einer zugeschlagenen Tür.
Es ist sicher, dass der Vorfall dazu führt, dass die EU den Druck auf Minsk erhöhen wird. Nur kann das Lukaschenko und seinen Getreuen politisch einigermaßen egal sein. Konsequenzen drohen in anderer Hinsicht: Die litauischen Behörden haben wegen des Zwischenfalls offiziell Ermittlungen aufgenommen. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft wurde eine Voruntersuchung wegen des Verdachts auf Flugzeugentführung eingeleitet.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.