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Leipzig Calling – Messe auf Abstand
Der Bücherfrühling hockt in den Netzen
»Lasst uns lesen!« lautet heuer das Credo des alljährlichen Bücherfestes mit traditionell unzähligen Veranstaltungen an allen möglichen und unmöglichen Orten der Messestadt. »Ja, was denn sonst, etwa Fernsehgucken?« möchte man leicht sarkastisch zurückfragen. Dank unentschlossener, fahriger Pandemiebekämpfungspolitik, falscher Prioritätensetzung (Schulen zu, Fabriken auf), gewürzt mit einem Schuss egoistischer und esoterischer Realitätsverweigerung mancher Mitmenschen muss auch diese Buchmesse ohne das Gedränge in den Messehallen und das abendliche Gewusel in der Stadt auskommen. Die Verschiebung in den Mai war der Hoffnung geschuldet, dass im Land der Organisationsweltmeister bis dahin ausreichend geimpft und Infektionsketten wirksam unterbrochen würden. So hoffte man.
Das zweite Jahr also, in dem auch das »nd« nicht mit einem großen Stand vertreten ist, nicht Gespräche mit interessanten Zeitgenossen über Literatur, Politik, Gott und die Welt führen und den Lesern kein leibhaftiges »Hallo«, sagen kann. Die Leipziger Messe setzt, der Not gehorchend, auf ein digitales Programm, die Übertragung von Lesungen und Diskussionen per Livestream und Abrufvideo auf Youtube. Das ist besser als nichts, und doch: ein leibhaftiger Treff mit leibhaftigen, dreidimensionalen Menschen ist schon etwas anderes, unmittelbares; etwas, das uns vor Augen hält, dass wir (die meisten von uns) soziale Wesen sind. Immerhin wird es auch einige Veranstaltungen mit Publikumsbeteiligung geben, sinkende Inzidenzen lassen allmählich eine begrenzte Rückkehr zur verrückten Leipziger Normalität zu.
Was sind oder wären die Highlights dieser Messe? Die fünf Nominierungen zum Preis der Buchmesse etwa. Die Nominierten sind allesamt alte Hasen im Literaturbetrieb, die Jury ging auf Nummer sicher. Ich hätte mir dazu noch eine Stimme der jungen Generation wie Esther Becker (»Wie die Gorillas«, Verbrecher 2021) und Helene Adler (»Die Infantin trägt den Scheitel links«, Jung und Jung 2020) gewünscht, das hätte noch etwas mehr Spannung ins Spiel gebracht. Jedenfalls hat das dynamische Kritiker-Duo – nd-Feuilletonchef Christof Meueler und ich – ein paar zusätzliche Leseschichten geschoben und die Kandidaten auf Lesetauglichkeit und Lesevergnügen hin abgeklopft. Das etwa einstündige Video dazu können Sie auf dem nd-Kanal abrufen, die dazugehörigen Kurzkritiken finden Sie in dieser Ausgabe auf Seite 12. Gern hätten wir mit Ihnen live über diese Bücher diskutiert. Aber das heben wir uns für das nächste Jahr auf.
Unser Beitrag zur digitalen Messe:
Klaus Lederer & Hans-Dieter Schütt: Die Sterne über Berlin
Petra Pau & Olaf Koppe: Anomal bis digital. Gott hab sie selig
Hans-Dieter Schütt & Olaf Koppe: Als wär man der und der
Thomas B. Steinke & Olaf Koppe: Goldbecks Wenden
Monika Melchert & Mario Pschera: Anna Seghers im mexikanischen Exil
Christian Baron & Irmtraud Gutschke: Verhältnisse, die so nicht bleiben dürfen
Friedrich Dieckmann & Paul Werner Wagner: Beethoven und das Glück
Wolfram Elsner & Irmtraud Gutschke: China – Die neue Weltmacht?
Nominiert für selbigen Preis in der Sparte Übersetzung sind u.a. die geschätzte Ann Cotton mit Rosmarie Waldrops furiosem Schuld-und-Sühne-Spießerroman »Pipins Tochters Taschentuch« über deutsche Innerlichkeit, die Faszination des NS und die Furcht vor der Körperlichkeit, Sonja Finck und Frank Heibert mit dem frankokanadischen Roman »Stories aus Kitchike. Der große Absturz«, den wir bereits im »nd« vorgestellt haben. Dazu Hinrich Schmidt-Henkel mit seiner Übersetzung von Tarjei Vesaas stillem Roman »Die Vögel« aus dem Norwegischen und Timea Tankó für Miklós Szentkuthys »Apropos Casanova. Das Brevier des Heiligen Orpheus« aus dem Ungarischen. Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren übersetzten die USA-Trilogie von John Dos Passos neu. Allesamt Bücher, die wie prädestiniert für Wunschzettel aller Art sind. Und nebenbei: die Arbeit der Übersetzerinnen und Übersetzer wird noch zu selten in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen, dabei sind sie es, die die kulturellen Brücken zwischen Ländern und Kontinenten bauen.
Brücken will auch TRADUKI, das europäische Übersetzernetzwerk für Literatur bauen. Von 2020 bis 2022 wird der »Common Ground«, der gemeinsame Boden, die Länder Südosteuropas und den deutschsprachigen Raum mittels Büchern verbinden. Historisch sind die Länder Mittel- und Südosteuropas schon lange verbunden, die Entfremdung lässt sich an drei Kriegen des 20. Jahrhunderts festmachen; und es gibt eine Menge aufzuarbeiten. Die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen der Serben, Bosnier, Mazedonier werden auf den Präsenzveranstaltungen in Leipzig eine Rolle spielen, die Verheerungen, die Nato- und EU-Politik, Korruption und Cliquenkapitalismus angerichtet haben wie auch die Abwanderung von Fachkräften etwa aus Bulgarien. Wir vom »nd« hatten in den letzten Jahren immer wieder Autoren aus Südosteuropa auch auf der Leipziger Messe vorgestellt und werden an dem Thema dranbleiben. Nächstes Jahr hoffentlich auch wieder live und in Farbe.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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