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Zum Zuhören gezwungen
In der Dokumentation »Woman« erzählen Frauen weltweit von Liebe, Sexualität, Ungerechtigkeit und Gewalt
Tabus sind komplizierte Konstrukte. Es müssen schon alle mitmachen, sonst funktionieren sie nicht. Tabus sind erbarmungslos, strikt, kalt. Ein schwarzes Loch, aus dem es kein Entkommen gibt. Und sie sind schön widersprüchlich. Ein riesiger Elefant steht im Raum, aber niemand will ihn sehen. Manchmal, eigentlich oft, werden Tabus verwechselt mit der Abneigung, zuhören zu wollen. Es gibt Themen, die beschäftigen Frauen seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten, seit immer. Das Bild von der (Über-) Mutter, Abtreibung, sexuelle Gewalt, Schönheit, Normkörper, Menstruation. Es gab Zeiten, da waren diese Themen Tabus. Inzwischen wird auf allen Kanälen, getalkt, gepotcasted und geworkshoped. So gut wie keine Nachricht bleibt mehr ohne Empfänger. Und trotzdem ist es noch so: Spricht eine Frau über den jahrelangen Missbrauch durch ihren Vater, will man flüchten, nicht zuhören müssen, wegsehen wenigstens. Es gelingt dieses Mal nicht, und das ist ein großer Gewinn fürs Dokumentarkino.
Für den Film »Woman« haben Regisseurin Anastasia Mikova und Produzent Yann Arthus-Bertrand 2000 Frauen aus 50 Ländern interviewt. Sie sprechen über fast alles. Schönes, Befreiendes, Empowerndes, aber auch darüber, was Frauen auf der ganzen Welt ertragen, über- und erleben müssen. Vieles davon so grausam, dass es nahezu unerträglich ist, ihnen zuzuhören. Und davon leben Tabus ja auch: Zuhören tut weh. Die Kamera dabei immer im Close-Up, ein Ausweichen ist schier unmöglich. Der Hintergrund schwarz, die Frauen schön, egal, was ihnen passiert ist, was sie tragen, welche Körperform sie haben, welche Frisur und welche sichtbaren Narben. Denn sie haben sich getraut. Sie sprechen über ihre Schmerzen, Lust, Enttäuschungen, Niederlagen und hart erkämpfte Siege. Darüber, was (hauptsächlich) Männer ihnen angetan haben. Der ganze Film ein Safe Space, der in dem Moment des Gesagten, an dem man am verletzlichsten ist, Schutz bietet, der aber als Medium eben nach Empfängern sucht. Es wäre schön, wenn er sie findet.
Der Film schlägt mit seiner ganzen Heftigkeit zu, wenn eine Frau vom Missbrauch durch ihren Vater erzählt, dabei in die Kamera schaut - uns, den Zuschauern, also direkt ins Gesicht. Kaum auszuhalten. In Talkshows wäre immer ein Gegenüber ansprechbar, einer, der dem Zuschauer die emotionale Arbeit abnimmt, ein professioneller Adressat, ein Moderator, ein Katalysator. Ein Buch kann man weglegen, wenn es zu heftig wird. Hier geht es nicht. Hier sind wir, die Zuschauer, die mit der Wahrheit klarkommen müssen, allein. Das Erzählte ist so unmittelbar, dass Vermeidung oder Gleichgültigkeit unmöglich sind.
Die Interviews zeigen Frauen als Hochleistungsrechner, zumindest die, die sich in das System aus Erwartungen, Ansprüchen und Rollenklischees hineinbegeben. Blöde Bemerkungen über das Outfit wegstecken, im Beruf ständig präsenter sein als Männer, besser, schneller, witziger, um gesehen und nicht übergangen zu werden. Mode- und Schönheitsideale aushalten, Impftermin vom ersten Kind nicht vergessen, Geburtstagsgeschenk für die beste Freundin des zweiten auch nicht. Soweit so normal anstrengend. Die Frauen erzählen von verpassten Bildungschancen, weil das Schulgeld nur für den Bruder reichte, von ihrem jahrzehntelangen Kampf, die erste Abgeordnete im Stadtrat von Casablanca zu werden (was nach 21 Jahren erfolgloser Kandidatur mit Hartnäckigkeit doch gelang), von Zwangsehen, Genitalverstümmelung, aber auch von Erweckungserlebnissen wie dem ersten Orgasmus als längst erwachsene Frau.
Der Film hat den hehren Anspruch, jede Facette des Frauseins abzubilden, scheitert aber am Ende am eigenen Perfektionismus und daran, wie die Interviews kuratiert sind. Der Kern dessen, was eine Frau scheinbar ausmacht, ist dann doch recht konventionell ausgewählt. Die Belege dafür sind die Längen der Interviewpassagen, die die gezeigten Frauen bekommen haben und wie sie eingebettet sind. Das Thema Mutterschaft leitet eine überästhetisierte Kamerafahrt über einen schwangeren Bauch samt Kindsbewegung ein. Die Musik ist weich und warm. Es geht um unerfüllten Kinderwunsch, erzwungene Abtreibungen, das Gefühl, nach der Geburt für die Gesellschaft nur noch Luft zu sein, weil die Frau ab jetzt eine »leere Hülle« ist. Dazwischen geschnitten, glückliche Mütter mit ihren Kindern, die in die Kamera blicken. Das alles ist wahr, aber fokussiert recht einseitig auf das Schicksal der Frau als Mutter. Wie aus Pflichtbewusstsein ist schließlich noch eine selbstbewusste Frau zu sehen, die schon früh entschieden hat, nie Kinder zu wollen. Damit wäre dann auch diese Position vertreten. Aber wie kommt sie mit dem Druck klar? Hatte sie je Zweifel an ihrer Entscheidung? Ihr Mann hätte gerne Kinder gehabt, wie sind die beiden überein gekommen? Da wird es interessant, aber die Mission des Films ist eine andere, dafür reichen die ungefähr 30 Sekunden, die jede Frau spricht, nicht aus.
Und so geht es einem an mehreren Stellen. Wenn über Sexualität gesprochen wird, muss natürlich auch die lesbische Frau zu Wort kommen, wenn es um Identität geht, darf (sehr kurz) eine Transfrau erzählen. Der erwartbare, aufgeschlossene, aber eben sehr heterosexuelle Blick auf die Frau dominiert die Regie. Natürlich kann der Anspruch eines Filmprojekts wie »Woman« nicht sein, jeden Aspekt von Weiblichkeit in seiner Ganzheit darzustellen. Aber in den knapp zwei Stunden hätte es Raum gegeben, Redundanzen rauszustreichen und tiefer zu gehen bei denen, die es aushalten, an der Norm vorbeizuleben. Trotzdem ist der Film eine wunderbare Hommage, eine Beschwörungsformel an den Zusammenhalt und, zugegeben, wie selten hört man den Satz: »Ich liebe es, eine Frau zu sein.«
»Woman«: Frankreich 2020. Regie: Anastasia Mikova und Yann Arthus-Bertrand. 105 Min. Bis zum 18. Juni online zu sehen. Mehr Infos unter: www.mindjazz-pictures.de
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