Was fehlt, sind Antworten

Die Linksfraktion im Nordosten pocht auf eine Neuauflage des NSU-Untersuchungsausschusses nach den Landtagswahlen im Herbst

»Mein Bruder wurde von Nazis umgebracht, einfach so. Aber auch jetzt wissen wir nicht, warum ausgerechnet unser Bruder. Auf diese Frage haben wir immer noch keine Antwort. Mein Bruder und die anderen Opfer werden nicht wieder zurückkommen. Aber wir wünschen uns alle, dass wir unsere Antworten bekommen. Die Täter sollen bestraft werden und die Helfer sollen ausfindig gemacht werden. Wir wünschen uns umfassende Aufklärung.« Dies sagte Mustafa Turgut, der jüngere Bruder von Mehmet Turgut, der am 25. Februar 2004 in Rostock vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ermordet worden war.

Bedrückend an den Worten ist dabei nicht nur deren Inhalt, sondern auch der Zeitpunkt, an dem sie Mustafa Turgut geäußert hat. Denn dies war nicht etwa kurz nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011, sondern tatsächlich erst knapp zehn Jahre später in der 64. Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der NSU-Aktivitäten in Mecklenburg-Vorpommern am 23. April dieses Jahres. Die Arbeit des Ausschusses nähert sich nun dem Ende, in der kommenden Woche wird dem Landtag sein Bericht vorgelegt.

Am Mittwoch stellte die Linksfraktion ihr Votum zu diesem Bericht vor. Zu diesem Zwischenbericht, wie Peter Ritter, innenpolitischer Sprecher und Obmann der Linksfraktion im Ausschuss, dabei mehrfach betonte. Denn für Ritter und seine Fraktion endet zwar vorerst die Arbeit des Ausschusses, jedoch könne von einem Ende der Aufklärung keine Rede sein, so Ritter. »Wir konnten den erteilten Untersuchungsauftrag nicht in vollem Umfange erfüllen.«

Drei Jahre lang hat der Untersuchungsausschuss nun versucht, mehr Licht ins Dunkel des NSU-Komplexes, dessen Wirken in Mecklenburg-Vorpommern und die Arbeit der Sicherheitsbehörden zu bringen. Doch, so Ritter: »Wir müssen feststellen, dass zahlreiche Fragen unbeantwortet bleiben und viele Verstrickungen im Dunkeln liegen und das Wissen und das Handeln der Behörden weiter nebulös sind.« Dass das so ist, liege dabei nicht etwa am Unwillen der Ausschussmitglieder, so Ritter, sondern eher an den politischen Rahmenbedingungen. So habe etwa die jahrelange Blockadehaltung von Landtag und Landesregierung dafür gesorgt, dass man überhaupt erst sehr spät mit der Aufklärungsarbeit beginnen habe können.

Trotz dieses und zahlreicher weiterer »Aufklärungshindernisse« habe der Untersuchungsausschuss dennoch auch »wichtige Erkenntnisse zu Tage gefördert«. Zum Beispiel zu den Ermittlungen im Mordfall Mehmet Turgut. Aus Sicht der Linksfraktion müsse man dazu konstatieren, erklärt Ritter, dass diese »nicht mit dem erforderlichen Nachdruck durchgeführt wurden«. Auch hätten sie sich fast ausschließlich auf angenommene kriminelle Verstrickungen der Betroffenen fokussiert und ein rassistisches Tatmotiv außen vor gelassen, so Ritter.

Im gut 140 Seiten starken »Bericht zum NSU-Untersuchungsausschuss der 7. Wahlperiode des Landtages Mecklenburg-Vorpommern« der Linksfraktion heißt es dazu weiter, dass die Ermittlungen »voreingenommen, unausgewogen und in Teilen nicht sachgerecht durchgeführt« worden seien, »wodurch die Linksfraktion den bundesweit erhobenen Vorwurf des institutionellen Rassismus als begründet erachtet«. Auch seien »Vermutungen und Hinweise auf ein rassistisches Tatmotiv, welche wiederholt durch Betroffene geäußert wurden«, unberücksichtigt geblieben – »ebenso wie rassistische Vorfälle im Bereich des Imbisses in Rostock-Toitenwinkel in den Jahren vor der Tat«.

Auch dem Verfassungsschutz des Landes stellt der Bericht ein vernichtendes Zeugnis aus. Dieser habe etwa »durch unzureichende Auswertungs- und Analysetätigkeiten zudem die Relevanz des Neonazi-Fanzines ›Der Weisse Wolf‹ im NSU-Komplex« verkannt. »Ohne antifaschistische Recherche wäre der Dankesgruß an den NSU in der 18. Ausgabe des Propagandaheftes womöglich bis heute unbekannt.«

Aus der – zum Teil behördlicherseits massiv behinderten – Arbeit des Untersuchungsausschusses, dessen Erkenntnissen und Nicht-Erkenntnissen leitet die Linksfraktion zahlreiche Forderungen für die Zukunft ab. Diese reichen von der »Herausbildung einer Fehler- und Reflexionskultur innerhalb der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden« über den Ausbau der behördlichen Analysefähigkeit zu rechten Strukturen, den »Aufbau einer unabhängigen und mit Wissenschaftsexpertise ausgestatteten Beobachtungsstelle für die Erfassung und Analyse demokratiebedrohender menschenfeindlicher Bestrebungen« und eine »weitestgehende Transparenz der Arbeitspraxis des Inlandsgeheimdienstes« bis zu einer finanziellen Entschädigung für die Familie von Mehmet Turgut.

Und ganz prinzipiell: »Es darf keinen Schlussstrich unter den NSU-Komplex geben.« Damit es nicht zu einem solchen kommt, setzt sich die Linksfraktion schon jetzt vehement für eine Fortsetzung des Untersuchungsausschusses in der nächsten Legislaturperiode ein, »um den vom Landtag erteilten Untersuchungsauftrag vollumfänglich erfüllen zu können«. Vielleicht ist es dann auch möglich, Mustafa Turgut ein paar mehr Antworten zu liefern.

Der vollständige Bericht der Linksfraktion ist auf deren Internetseite zu finden: www.linksfraktionmv.de

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