- Politik
- Israel
»Bibi« muss gehen, Bennett kommt
Erstmals in Israels Geschichte tritt eine arabische Partei formal als Partner in eine Koalitionsregierung ein
Bis zur letzten Minute wurde verhandelt, die werdenden Koalitionspartner*innen gaben sich dennoch gelassen: Man tauschte ein paar Spitzen via Twitter aus, ließ aber ansonsten kaum einen Zweifel daran, dass spätestens Mittwoch um Mitternacht eine Regierung stehen würde. Und so kam es: Um 23:35 Uhr Ortszeit, 25 Minuten vor Ablauf der Frist zur Regierungsbildung, teilte Jair Lapid, Chef der zentristischen Zukunftspartei, Staatspräsident Reuven Rivlin mit, dass die Regierung steht - und eine historische obendrein. Zum allerersten Mal hat eine arabische Partei, die konservative Raam, eine Koalitionsvereinbarung unterschrieben. Nur ein einziges Mal, Anfang der 90er Jahre, stützten arabische Parteien die Regierung, allerdings ohne formalen Koalitionsvertrag. Und erstmals wird der Chef einer Kleinpartei, Naftali Bennett, Regierungschef.
Dass das alles so lange gedauert hat, sich bis fast zur letzten Minute hinzog, hat nicht nur mit der Vielzahl von Ideologien zu tun, die in dieser Regierung vertreten sein werden. Von Raam, den beiden linken Fraktionen Meretz und Arbeitspartei Awoda bis hin zur rechten Jamina von Naftali Bennett ist alles dabei. Politische Parteien vertreten in der Regel die Interessen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, und das politische System ist darauf angelegt, möglichst viele Gesellschaftssektoren im Parlament abzubilden. Doch das bedeutet auch, dass die Wähler nicht einfach nur sehen wollen, dass Benjamin Netanjahu abgesetzt wird, sondern Ergebnisse für sich selbst erwarten.
Dabei hat sich die neue Regierung viel vorgenommen: Die gleichgeschlechtliche Ehe und Cannabis sollen legalisiert werden, keine ohne Genehmigung gebauten Häuser mehr abgerissen und umfangreiche Strukturmaßnahmen in arabischen Kommunen angegangen werden. Außerdem sollen der unter Regierungschef Benjamin Netanjahu stark zurückgefahrene Sozialstaat wieder ausgebaut und die Unabhängigkeit der Justiz gestärkt werden. In der Palästina-Frage sind hingegen erst einmal keine großen Würfe zu erwarten: Ägypten wird weiterhin zwischen Israel und der Hamas vermitteln, im Raum steht ein Gefangenenaustausch. Doch langfristige Lösungen scheitern aktuell nicht nur daran, dass Jamina eine Abtretung von Gebieten an die Palästinenser*innen ablehnt, sondern auch an der Schwäche der palästinensischen Regierung.
»In einer Zeit, in der Politikern der Tod gewünscht wird, und sich arabische und jüdische Bürger*innen bekämpfen, sind die Kompromisse, die gestern Nacht erzielt wurden, ein Zeichen der Hoffnung«, sagt Izchak Herzog, ehemaliger Chef der Arbeitspartei, und designierter Staatspräsident. Am Mittwochmorgen setzte er sich in geheimer Abstimmung im Parlament mit sehr großer Mehrheit gegen die konservative Lehrerin Miriam Peretz durch - auch das ein Zeichen dafür, dass sich etwas ändert, denn die Entwicklungen der vergangenen Tage haben viele Abgeordnete schockiert.
Seit einigen Tagen wird vor den Häusern der Jamina-Abgeordneten demonstriert, während sich Benjamin Netanjahu in der Öffentlichkeit so darstellt, als werde ihm sein legitimer Anspruch auf das Amt geraubt, als stehe Israel nun vor seiner Zerstörung. Auf Twitter rief er zum Widerstand gegen die neue Regierung auf. Avigdor Liebermann, Chef der rechten Jisrael Beitenu, die ebenfalls an der Regierung beteiligt sein wird, warnte vor einer israelischen Version des Capitol-Sturms in Washington Anfang Januar.
Lesen Sie auch: Fragiles Bündnis - Cyrus Salimi-Asl zur Ankündigung der neuen Regierung in Israel
Politisch scheint Netanjahus Uhr abgelaufen zu sein. Zwar versucht er nach wie vor, Abweichler*innen zu finden, die die neue Regierung unter die 60 Stimmen drücken, die sie braucht, um im Amt bestätigt zu werden; aktuell hat man 61 Stimmen. Doch es ist auch wahrscheinlich, dass wenigstens einige der sechs Abgeordneten der Vereinigten Liste, einem arabischen Parteienbündnis, für die Regierung stimmen werden. Parlamentssprecher Jariv Levin, ein Parteifreund Netanjahus, hat nun bis Mittwoch kommender Woche Zeit, die für die Bestätigung der neuen Regierung notwendige Abstimmung anzusetzen, und diese Frist scheint er auch ausreizen zu wollen.
Was danach aus Benjamin Netanjahu wird, ist offen. Sein Korruptionsprozess ist in vollem Gang, und Netanjahus Hoffnung war bisher, das Parlament könne ihm Immunität verleihen. Nach der Wahl Izchak Herzogs zum Präsidenten wird in konservativen Medien nun für eine andere Option plädiert: Das neue Staatsoberhaupt solle Netanjahu begnadigen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.