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Immer diese Widersprüche
Für eine Erneuerung der Debattenkultur: Widerspruchsbewusstsein statt Widerspruchsfreiheit
An Widersprüchen scheiden sich die Geister. Sind sie Motor der Entwicklung oder bloßer Fehler in der Rechnung? Jeder an Hegel und Marx geschulte Dialektiker verteidigt sie vehement. Erst durch den Widerspruch wird ein abstrakter Gedanke konkret und Entwicklung (als Form des Überschreitens eines Ist-Zustandes) denkbar. Eine Sache ist, was sie ist, und trägt doch ihre Negation schon in sich?
Das scheint in einer digitalen Welt obsolet geworden. Ein Computer funktioniert im Plus-minus-Modus. Beides zugleich wäre der Störfall im System. Was folgt daraus? Dass die Logik der Einzelwissenschaften eine andere ist als die - im Sinne von Hegel und Marx - des Geschichtsprozesses und der Entwicklung des Menschen. Doch heute blickt die Logik der Widerspruchsfreiheit auch gern auf die Geschichte und den Menschen. Geschichte verliert so jede Tendenz, wird zur bloßen Datensammlung, auf die Google in Sekundenbruchteilen zugreift - mehr nicht.
Daraus resultiert ein höchst voluntaristisches Prinzip von Meinungen, die im Kampfmodus gegeneinander um Deutungshoheit streiten und dafür meist die Moral für sich reklamieren. Im digitalen Zeitalter sind es vornehmlich Communitys, die nach innen dem Prinzip widerspruchsfreier Übereinstimmung folgen und in der Außenwelt (das sind andere Communitys) eher Feindesland erblicken. Lassen sich so überhaupt noch universale Werte vertreten? Was für Folgen hat die Verbannung des Widerspruchs aus dem Eigenen ins Fremde? Und für das Menschenbild?
Michel Foucault hat in seinen so wichtigen Arbeiten, wie zum Beispiel »Wahnsinn und Gesellschaft« (1961), auch über die Institutionalisierung ursprünglicher Ideen nachgedacht. Seine These: Gemeinschaften konstituieren sich durch die Auslagerung des inneren Widerspruchs nach außen - doch damit ist auch schon ihre Zerstörung angelegt.
Will man das an einem exemplarischen Beispiel der Zeitgeschichte zeigen, dann wäre dies die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR im November 1976. In seiner Person wurde der hausgemachte Widerspruch über die Grenze geschafft. Jetzt sind wir den Störenfried endlich los!, dachte sich das Politbüro. Aber das Gegenteil war der Fall. Diejenigen, die mit ihrem Protest das Unheil noch aufzuhalten versuchten (von Stefan Heym über Stephan Hermlin, Christa und Gerhard Wolf bis Franz Fühmann und Heiner Müller), waren nicht unbedingte Anhänger des überlauten Barden. Aber sie wussten, die ausgehaltene Zumutung seiner Existenz in der DDR sicherte dieser einen notwendigen Freiraum für geistige Dynamik. Als man sich dann des inneren Widerspruchs (wie auch dem von Robert Havemann oder Rudolf Bahro) entledigt hatte, hoffte die SED-Spitze, frei von Widerspruch zu bleiben - vergeblich.
Ist das ein Thema von gestern? Nein, die Neigung, Widersprüche zu eliminieren, wächst. Das liegt nicht zuletzt in einer medialen Logik, die alles in marktkonforme Produkte verwandelt - auch das in sich tief Widersprüchliche, das in keine Schublade passt. Aber gerade diese bewusst gemachten Widersprüche werden zur Basis für jene Werke, die nicht nach kommerziellem Erfolg, sondern nach Wahrheit streben.
Der öffentliche Umgang mit Heinrich Mann zu dessen 150. Geburtstag im März zeigte dies. Das Fernsehen brachte aus diesem Anlass den Film »Der unbekannte Rebell«. Dieser Titel war bereits eine Frechheit. Wieso nennt man den Autor von »Der Untertan« und »Professor Unrat« (Bestseller zu seiner Zeit) »unbekannt«, zumal Heinrich Mann in der Weimarer Republik der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste vorstand, zeitweise sogar bekannter war als sein Bruder Thomas?
Vermutlich liegt es daran, dass Heinrich Mann nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland systematisch ignoriert und in seiner Bedeutung geleugnet wurde (vor allem durch den führenden Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki). Da ist bundesdeutsche Selbstkritik durchaus am Platze. Nun aber feierte man ihn als lupenreinen Demokraten. Als wäre es in den Kämpfen des 20. Jahrhunderts so simpel, so ohne innere Widersprüche, zugegangen.
Doch was der Film alles verschwieg, verstimmte noch mehr: Manns Rolle als Europäer, der eine Brücke zwischen Frankreich und der Sowjetunion bauen wollte. In »Ein geistiges Locarno« (1927) beschwört er die Vermittlerrolle Deutschlands zwischen West- und Osteuropa. Davon will der herrschende Zeitgeist, der nur nach Westen blickt, nichts wissen - also fiel es unter den Tisch. Auch seine Rolle in der Volksfront-Bewegung - zusammen mit der KPD gegen Hitler - passt nicht zu einem politisch korrekten Demokraten, wie ihn sich die SPD heute als Mitglied wünscht. Und dass Heinrich Mann 1950, kurz vor seinem Tod, den Ruf als Präsident der Akademie der Künste nach Ost-Berlin angenommen hatte, störte ebenfalls. Die junge DDR demonstrierte damit erstaunlich offen ihren Willen, an die Tradition der Weimarer Republik anzuknüpfen. Ganz schön viel, was derzeit einfach nicht mehr vorkommt.
Halbe Wahrheiten sind ganze Lügen? Dabei ist der wirklich heikle Aspekt an Heinrich Manns Verhalten, dass er nicht nur Stalin rühmte, was angesichts des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion noch verzeihlich wäre, sondern auch die Schauprozesse 1937/38 ausdrücklich damit verteidigte, dass die Sowjetunion nun einmal viele Feinde im Innern habe. Nachzulesen in »Ein Zeitalter wird besichtigt«.
Der Irrtum, die Fehleinschätzung aber gehören zur gelebten Wahrheit. Ohne korrigierten Irrtum gibt es keine Wandlung beim Einzelnen, keine Entwicklung der Gesellschaft. Sie, wie hier am Beispiel des Umgangs mit dem »roten« Heinrich Mann, zu unterschlagen, das Bild zu glätten, scheint unredlich.
Statt aber die Wahrheit so lange zu frisieren, bis sie zum selbstgerechten Selbstbild passt, wäre ein Anerkennen von gelebten Widersprüchen fällig. Wer handelt, der wird auch immer schuldig. Und der blindwütige Eifer, den manch Parteigeist - zu allen Zeiten - an den Tag legt, weicht in späteren Lebenszeiten dann oft stiller Reflexion. Jeder denkende und fühlende Mensch gerät oft genug in Widerspruch zu sich selbst. Das kann man reflexartig Verrat nennen - oder auch einen Lernprozess, im besonderen Fall sogar eine Katharsis.
Wer jedoch bloß moralisch urteilt, kann dieses Sich-Wenden-von-Irrtum-zu-Irrtum, wie Gottfried Benn sein Leben nannte, nur verurteilen. Aber ein Autor von Rang wie Benn bleibt, ebenso wie sein Gegenspieler Johannes R. Becher, tief widersprüchlich. Beide kamen sie aus dem Expressionismus. Das Rundfunkgespräch, das sie 1930 zu dem Thema führten, ob die Dichter die Welt ändern können, ist immer noch lehrreich. Becher, Kommunist und Mitglied im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller sagt: »Ich erkannte, dass es nicht in erster Linie wichtig ist, welche Meinungen, welche Vorstellungen die Menschen über sich selbst haben, sondern dass es darauf ankommt, welche Funktionen die Menschen in der Geschichte einnehmen, was die Menschen wirklich sind.« Benn erwidert: »Ich bin überzeugt, dass mit den gleichen ideologischen Hypothesen, die Sie entwickeln, seinerzeit Dschingis Khan in China eingerückt ist. Ich meine damit: Die Weltgeschichte als Ganzes ist äußerst fragmentarisch. Eine Offenbarung der Weltvernunft, die Verwirklichung einer Idee, wie sie Hegel aussprach, kann man nicht feststellen.«
Solche Debatten auf solch einem Niveau, hart in der Sache, aber freundlich im Umgang, wünscht man sich heute wieder. Als Benn 1956 stirbt, widmet Becher dem »feindlichen Bruder« ein Gedicht, in dem es heißt: »Mein Vers weint eine harte, strenge Träne ...« Er selbst habe die Wahl gehabt, Becher oder Benn zu werden, wird er 1952 in seinem postum erschienen Text »Das poetische Prinzip« notieren. Er entschied sich, der zu werden, der er nun sei.
Jedoch der Stalinismus bedroht jede poetische Äußerung, darunter leidet Becher zunehmend. Da ist keinerlei Selbstgerechtigkeit, nur Selbstzweifel. Wie solle er heimkehren ins Reich der Poesie? »Die Angst befällt mich, dass ich ganz und gar irre gehe und keinen gangbaren Weg mehr finde, der mich dorthin zurückführt, von wo ich ausgegangen bin. Aber ich muss meine Ausgangsposition wiedergewinnen, wenn ich kein Heimatloser, kein für immer Verirrter bleiben soll.«
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