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»Ich habe niemals mit den Opfern geweint«
Carla Del Ponte reflektiert über ihre Zeit als UN-Chefanklägerin gegen Kriegsverbrecher
Frau Del Ponte, in Syrien herrscht seit über zehn Jahren Krieg. Die Konfliktparteien haben Streubomben und Giftgas eingesetzt, Hunderttausende sind gestorben, Millionen sind auf der Flucht. Glauben Sie, dass Baschar Al-Assad und die anderen Akteure des Krieges jemals für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden?
Nein. Denn jedes Mal, wenn die Welt etwas gegen Assad unternehmen möchte, legt Russland im UN-Sicherheitsrat sein Veto ein. Allerdings: Kriegsverbrechen verjähren nicht. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der politische Wille der Staaten eines Tages ändert und man die Verantwortlichen doch noch zur Rechenschaft ziehen wird. Jedoch nicht in absehbarer Zeit. Es ist auf der ganzen Welt eine schlechte Zeit für Menschenrechte und die internationale Justiz. Leider, leider, leider.
Carla Del Ponte (74) war von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien sowie für den Völkermord in Ruanda in Den Haag. Von 2011 bis 2017 arbeitete sie in einer UN-Kommission, die Menschenrechtsverletzungen in Syrien im dortigen Bürgerkrieg untersucht. Zuvor hatte sie sich als Staatsanwältin des Schweizer Kantons Tessin mit einem kompromisslosen Vorgehen gegen Geldwäsche, organisierte Kriminalität, Waffenschmuggel und grenzüberschreitende Wirtschaftskriminalität einen Namen gemacht.
Sie arbeitete eng mit dem 1992 ermordeten italienischen Richter Giovanni Falcone gegen die Mafia zusammen und entging am 20. Juni 1989 bei Palermo nur knapp einem Sprengstoffanschlag. Jetzt erscheint ihr Buch »Ich bin keine Heldin! Mein langer Kampf für Gerechtigkeit«. Mit ihr sprach Philipp Hedemann.
Sie wollten selbst dazu beitragen, dass die Kriegsverbrechen in Syrien nicht ungesühnt bleiben. Doch nach mehr als sechs Jahren sind Sie als Mitglied einer UN-Untersuchungskommission zurückgetreten. Warum?
Weil ich einfach genug hatte! Wir haben uns darum bemüht, dass ein internationaler Gerichtshof für die in Syrien begangenen Kriegsverbrechen gegründet wird. Doch es ist absolut nichts geschehen! Ich wollte mit meiner Mitarbeit in der Kommission der Welt und der UNO nicht länger ein Alibi bieten, nichts für die Aufarbeitung der in Syrien begangenen Verbrechen zu tun.
Die Kriegsverbrecher werden also straffrei davonkommen?
In Deutschland mussten sich unlängst Menschen, die in Syrien Kriegsverbrechen begangen haben, vor Gericht verantworten. Das war fantastisch und sehr bemerkenswert. Nicht viele Staaten außer Deutschland nehmen diese wichtige Arbeit auf sich. Aber es handelte sich bei den Angeklagten lediglich um relativ kleine Nummern. Doch wir müssten die großen Fische, die Drahtzieher vor Gericht bringen. Aber welches Land wird Präsident Assad vor Gericht stellen? Abgesehen davon, dass Assad ein ausländisches Gericht niemals akzeptieren würde, ist das auch nicht die Aufgabe einzelner Staaten. Deshalb wurden internationale Gerichtshöfe gegründet. Aber sie können nur tätig werden, wenn es den entsprechenden internationalen politischen Willen gibt.
In Ihrem neuen Buch »Ich bin keine Heldin. Mein langer Kampf für Gerechtigkeit«, stellen Sie fest, dass es um die internationale Justiz derzeit nicht gut bestellt ist. Haben Sie resigniert?
Nein. Aber als Mitglied der Syrien-Kommission hat mich die Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft gegenüber der internationalen Justiz, der Gerechtigkeit und den Menschenrechten zutiefst frustriert. Ich habe damals zweimal pro Jahr an den Sitzungen des UN-Menschenrechtsrates teilgenommen. Das war wirklich eine große Enttäuschung. Worte, Worte, Worte, aber nichts Konkretes.
Sie waren Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und für den Völkermord in Ruanda. Was haben Sie empfunden, als Sie das erste Mal dem serbischen Präsidenten und gesuchten Kriegsverbrecher Slobodan Milošević gegenübertraten?
Er verhielt sich stolz, überheblich, respektlos und zurückweisend und sagte mir, dass er den Gerichtshof und mich als Chefanklägerin nicht anerkenne. Hätten Blicke töten können, wäre ich gestorben, als er mich im Gerichtssaal anschaute. Zu Beginn der Verhandlungen hat der Vorsitzende Richter ihn immer gefragt hat: »Wie geht es Ihnen, Herr Milošević? Wie fühlen Sie sich? Bekommen Sie genug zu essen? Sind Sie zufrieden mit Ihrer Zelle?« Das hat mich wütend gemacht. Es hat mich nicht interessiert, wie es Milošević ging. Mich hat interessiert, welche Verbrechen er verübt hat.
Wie war Milošević als Angeklagter?
Er war schlau und hat sich selber verteidigt, obwohl der Gerichtshof ihm drei Verteidiger gestellt hat. Aber er wollte sich selbst verteidigen, denn nur so konnte er sprechen. Er wollte die ganz große Bühne, um seine politischen Botschaften zu verkünden, und die ganze Welt sollte zusehen.
Milošević starb, bevor es zum Urteil kam, in seiner Zelle. Was haben Sie empfunden, als Sie von seinem Tod erfuhren?
Ich war sehr wütend. Die Opfer und Hinterbliebenen konnten so nicht mehr erleben, dass Milošević für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen würde. Hinzu kam: Es ärgerte mich, dass er so einen gnädigen, so einen milden Tod geschenkt bekam. Er ist einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Andere Kriegsverbrecher sind nach Ihren Anklagen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Hat Ihnen das persönliche Genugtuung verschafft?
Ja, sicher! Es war der beste Lohn für unsere Arbeit. Manchmal knallten die Champagner-Korken. Aber vor allem habe ich mich für die Opfer gefreut.
Sie haben Massengräber und ungezählte Leichen gesehen. Was hat es mit Ihnen gemacht, immer wieder mit monströsen Verbrechen konfrontiert zu werden?
Aus den persönlichen Gesprächen mit den Opfern habe ich stets die Motivation geschöpft, mich voll und ganz für sie und die Gerechtigkeit einzusetzen. Aber ich habe niemals mit den Opfern geweint. Niemals! Ich habe bei diesen Treffen nie irgendwelche Gefühle zugelassen.
Warum?
Ich hatte immer nur im Kopf, wie ich die Täter verhaften kann und was ich in die Anklageschrift schreibe. Dazu brauchte ich einen klaren Kopf und keine Gefühle. Ich habe in meinem Job schreckliche Dinge gesehen: Massengräber, deren Gestank nach verwesenden Leichen Sie nie wieder aus den Klamotten bekommen. Leichenhallen, in denen Autopsien von Opfern von Massakern durchgeführt wurden. Aber ich musste dabei nie gegen die Tränen oder meine Gefühle kämpfen. Ich hatte schlichtweg keine Gefühle. Das hat mir sehr geholfen, gut arbeiten und gut schlafen zu können. Ich hatte nie Alpträume.
Sind Sie eine Rächerin?
Nein. Ich habe nicht Rache genommen, für etwas, was mir selbst angetan wurde. Ich habe im Auftrag der Opfer gehandelt.
Was unterscheidet einen für Kriegsverbrechen angeklagten Präsidenten auf der Anklagebank von einem gewöhnlichen Kriminellen?
Juristisch eigentlich nichts, de facto jedoch sehr viel. Gewöhnliche Kriminelle haben ein, zwei oder drei Menschen getötet, ein italienischer Mafioso hat vielleicht bis zu zehn Menschen auf dem Gewissen. Aber Milošević trug die Verantwortung dafür, dass Tausende gefoltert und getötet wurden. Trotz dieser enormen Schuld treten Kriegsverbrecher - wie Milošević - vor Gericht meist nicht wie zerknirschte Angeklagte, sondern als selbstbewusste Machtmenschen auf.
Kriegsverbrecher zeigen keine Reue?
Von allen Angeklagten des Jugoslawien-Tribunals hat nur einer echte Reue gezeigt. Die anderen sahen sich als Helden, die sich für ihre Missionen aufgeopfert haben.
Wenn schon ein einfacher Mord mit lebenslanger Haft geahndet werden kann, kann es dann überhaupt eine gerechte Strafe für tausendfachen Mord oder Genozid geben?
Lebenslang heißt in gewöhnlichen Strafverfahren normalerweise nicht wirklich lebenslang. In der Schweiz beispielsweise heißt lebenslänglich in der Regel 18 Jahre Haft. Aber wenn ein Internationaler Strafgerichtshof das Urteil lebenslänglich fällt, heißt das wirklich lebenslänglich. Der Verurteilte bleibt dann so lange in Haft, wie er lebt. Und das ist eine angemessene Strafe.
Auf Sie ist ein Sprengstoffanschlag verübt und geschossen worden. Ist der Kampf für Gerechtigkeit es wert, sein eigenes Leben zu riskieren?
Sterben müssen wir alle. Irgendwann. Aber warum soll ich mich davon beeinflussen lassen, dass man vielleicht versucht, mich zu töten? Ich hatte nie Angst. Ich war unter Polizeischutz und habe immer darauf vertraut, dass die Bodyguards und Polizisten ihren Job gut machen. Nur ein einziges Mal, in Belgrad, hatte ich ein komisches Gefühl. Wir waren auf einer gesperrten Autobahn mit einem Konvoi auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt. Es gab drei identische Wagen. Potenzielle Attentäter sollten nicht wissen, in welchem Auto ich saß. Aber was mich gestört hat, war, dass am Ende des Konvois ein Krankenwagen fuhr. Darin hätte ich sofort behandelt werden können, wenn auf mich geschossen worden wäre. Das hat mir die Bedrohungslage konkret vor Augen geführt.
Heute sind Sie eine Großmutter, die sich um ihre Enkel kümmert, Golf und Bridge spielt. Doch in der Welt passieren nach wie vor schwerste Verbrechen, die ungesühnt bleiben. Können Sie damit gelassen umgehen?
Ich habe mein Leben lang für die Gerechtigkeit gekämpft. Ich habe alles getan, was ich konnte. Und ich muss gestehen, dass ich gehofft hatte, viel mehr zu bewirken. Aber jetzt sollen sich andere darum kümmern und meine Arbeit fortsetzen.
Bereuen Sie etwas in Ihrem Leben?
Nein! Nein! Nein! Ich habe immer mein Bestes gegeben. Sicher hätte ich irgendetwas besser machen können. Aber in meinem Alter blicke ich nicht mehr so viel zurück, heutzutage schaue ich auf meine Zukunft. Und die ist nicht mehr so lang, oder? (lacht)Carla Del Ponte: »Ich bin keine Heldin! Mein langer Kampf für Gerechtigkeit«, Westend Verlag, 176 S., 18 €.
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