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Gier nach dem Gewinn
Auch der neue Glücksspielstaatsvertrag wird die Sucht der Zocker nicht eindämmen können
Es ist dem jungen Mann sichtbar peinlich. »Ich habe alles für diesen Mist getan.« Er spricht von der Hoffnung auf Glücksspielgewinne. »Mein ganzes Geld ist draufgegangen. Ich habe Taschen voll Münzen in die Automaten geschmissen, mein Leben verzockt, bis ich nichts mehr hatte. Dann musste ich neues Geld besorgen. So bin ich im Knast gelandet«, erzählt er.
Nicht wenige Häftlinge in deutschen Gefängnissen sind glücksspielsüchtig. Sie haben ihre Spielsucht durch Betrug, Diebstahl oder gar bewaffneten Raub finanziert, immer in der Hoffnung auf den großen Gewinn oder auf die Aussicht, ihre Schulden bezahlen zu können.
Ulrich Kemper leitet als Chefarzt an der Bernhard-Salzmann-Klink in Gütersloh eine der deutschlandweit größten Abteilungen zur therapeutischen Behandlung von Glücksspielsucht. Rund die Hälfte seiner fast ausschließlich männlichen Patienten sind schon mal straffällig geworden. »Viele dieser Leute haben ein Nettoeinkommen von unter 2000 Euro. Davon müssen sie Miete und Lebensmittel bezahlen. Da bleibt ihnen manchmal gar nichts anderes übrig, als kriminell zu werden. Andere Geldquellen für ihre Sucht sind längst dicht. Anfangs pumpen sie natürlich ihre Angehörigen an. Aber irgendwann sind ganze Familien zerstört.«
Ein anderer Patient spricht mit leiser Stimme, den traurigen Blick immer auf seine Schuhe gerichtet: »Ich habe mir nicht klar gemacht, was alles kaputtgehen kann. Meine Beziehung ist kaputt, meine Freundschaften. Sogar meine Familie habe ich aufs Spiel gesetzt. Ich habe mein ganzes Leben in die Waagschale geworfen.«
Menschen, die zu viel und immer häufiger spielen, verlieren irgendwann die Kontrolle. Dann sind sie nicht mehr fähig, sich zum Aufhören zu entscheiden. Das belastet nicht nur ihre eigenen Angehörigen, sondern in manchen Fällen auch die Opfer ihrer Verbrechen. »Ich habe Raubsachen gemacht.« Der Patient ist vorbestraft. »Und für was? Fürs Zocken. Einmal waren wir zu zweit unterwegs und haben eine Gruppe Jugendlicher gesehen. Wir zogen Waffen und haben ihre Sachen genommen. Dabei ging es nur ums Geld fürs Spiel.«
Gefahr oder Spielvergnügen?
Mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von vierzehn Milliarden Euro ist der Glücksspielmarkt in Deutschland zwar der größte der Europäischen Union. Trotzdem gelten die Deutschen als nicht besonders spielaffin. Nur knapp drei Prozent der Bevölkerung spielen ab und zu an Glücksspielautomaten. In den meisten anderen Ländern Europas sind es mehr, klagt Mario Hoffmeister, Pressesprecher der Gauselmann Gruppe, einem der großen deutschen Hersteller von Glücksspielautomaten. »Warum eigentlich wird Spielen in Deutschland mehr als Problem angesehen und nicht als das, was es für die meisten ist, nämlich Spielvergnügen? Wenn man in Deutschland vom Spielen spricht, dann geht es immer um Probleme.«
In deutschen Kneipen und Spielhallen stehen rund 230 000 Geldspielautomaten, die mit aufregenden 3-D-Grafiken, eingängigen Melodien, überraschenden Soundeffekten und verführerischen Gewinnmöglichkeiten zum Spielen animieren. Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung spricht von weit über 200 000 Menschen in Deutschland mit einem »problematischen Verhalten« gegenüber dem Glücksspiel. Fast drei Prozent der jungen Männer gelten als gefährdet oder als hochgradig glücksspielsüchtig.
Einer der Patienten von Ulrich Kemper beschreibt, wie die Sucht nach dem nächsten Gewinn seinen Alltag prägt: »Du stehst morgens auf und denkst: ›Hab’ ich Geld? Wo bekomme ich Geld her? Wann kann ich spielen fahren?‹ Wenn man kein Geld hat, dann setzt man erst mal die ersten Stunden daran, an Geld zu kommen. Sich was leihen, irgendwelche Lügengeschichten erzählen.«
Eine therapeutische Behandlung ist langwierig. Selbst Menschen, die jahrelang abstinent geblieben sind, fühlen sich weiterhin angezogen von der Atmosphäre in den Spielhallen. »Wenn wir jetzt zum Casino fahren würden, dann wäre ich plötzlich ein anderer Mensch«, sagt ein Mann, der schon lange nicht mehr gespielt hat. »Wahrscheinlich wäre ich schnell in einer euphorischen, motivierenden Stimmung. Wenn Sie hundert Euro dabei hätten, würde ich Sie dazu bringen, das Geld in einen Automaten zu packen.«
Die deutsche Glücksspielautomatenwirtschaft ist ein mittelständisch geprägter Industriezweig mit ungefähr 70 000 Arbeitsplätzen. Die Gauselmann Gruppe agiert weltweit mit 14 000 Beschäftigten. In Deutschland profitieren auch die Kommunen direkt vom Glücksspiel. Sie erhalten Kommissionen und Steuereinnahmen. Die langjährige Vorsitzende des Fachverbandes Glücksspielsucht, Ilona Füchtenschnieder, sieht darin einen problematischen Interessenkonflikt: »Durch die Spielautomaten haben die Städte enorme Steuereinnahmen. Je strenger sie in der Genehmigung sind, desto weniger Geld bekommen sie. Das bedeutet, dass sich reiche Kommunen eher Spielerschutz leisten können als arme.«
Zudem werden von dem Umsatz dreistellige Millionensummen direkt an öffentliche, gemeinnützige, kirchliche oder mildtätige Zwecke weitergereicht. Das trägt natürlich nicht dazu bei, die Hilfsorganisationen zu motivieren, vom Staat strengere Kontrollen und effektivere Suchtprävention zu fordern.
Viele Glücksspielsüchtige sind auch abhängig von Alkohol oder Drogen. Aber das Spiel um Geld zerstört ihr Leben in besonderer Weise: Ein junger Mann, dessen schmales Gesicht von seiner Heroinsucht geprägt ist, sagt voraus, dass es ihm langfristig viel schwerer fallen werde, die Folgeschäden des Spielens zu überwinden, als die der Drogensucht: »Auch mit Abstinenz werde ich noch jahrelang daran sitzen, meine Schulden zu begleichen. Zurzeit liege ich bei 28 000 Euro. Damit habe ich mir einen großen Teil meiner Zukunft verbaut.«
Den rechtlichen Rahmen für das Glücksspiel in Deutschland schafft der Glücksspielstaatsvertrag. Er nennt das Verhindern des Entstehens von Glücksspielsucht als sein erstes Ziel. Das zweite Ziel zitiert der Repräsentant der Spielautomatenhersteller, Mario Hoffmeister: »Im Paragrafen 1 des Glücksspielstaatsvertrages steht ganz eindeutig, dass mit einem legalen Angebot der natürliche Spieltrieb der Menschen in geregelte Bahnen gelenkt werden soll.«
Profit und Prävention
Schon seit den 80er-Jahren formiert sich eine organisierte Opposition gegen die Macht der Glücksspielindustrie. Die Diplompädagogin Ilona Füchtenschnieder bezeichnet sich als die »dienstälteste Spielerschützerin Deutschlands«. Seit über dreißig Jahren widmet sie sich der Aufklärung über die Gefahren des Glücksspiels. Als beste Präventionsstrategie propagiert sie: Gar nicht erst anfangen mit dem Spielen. Und wirklich: Ein Großteil der Deutschen hat noch nie eine Münze in einen Spielautomaten geworfen. »Die meisten Glücksspielsüchtigen meinen sich zu erinnern, dass sie zu Beginn einen großen Gewinn gemacht haben, eine Big-Win-Erfahrung. Wir sagen immer: ›Wer Pech hat, der gewinnt am Anfang.‹ Mit der Zeit gehört man statistisch gesehen auf jeden Fall zu den Verlierern.«
Ulrich Kemper plädiert dafür, dass den Profitinteressen der Glücksspielindustrie enge Grenzen gesetzt werden: »Da muss man auch klipp und klar sagen: ›Was ihr da macht ist unethisch, und das ist nicht zu verantworten.‹«
Der erfahrene Arzt äußert sich auch deshalb so deutlich, weil er in seiner Klinik täglich sieht, wie grausam die Krankheit sein kann. Ganze Familien leiden jahrelang an der emotionalen Verarmung und den hohen Schulden. Ilona Füchtenschnieder weiß, dass keine andere Sucht so häufig zu Selbsttötungen führt wie die nach dem Adrenalinstoß, der durch das Klimpergeräusch beim Big Win freigesetzt wird: »Eine Familie fällt aus allen Wolken, weil sich der Mann plötzlich suizidiert hat. Niemand wusste was. Oder morgens steht der Gerichtsvollzieher vor dem Haus und die Ehefrau weiß nicht, dass sie ihr Zuhause verloren hat.«
Das alles sieht der Lobbyist Mario Hoffmeister natürlich anders. Ein ums andere Mal wiederholt er das Argument, die wirkliche Gefahr für die Gesellschaft gehe nicht von den gemeldeten legalen Spielstätten aus. Viel gefährlicher seien die illegalen Angebote, die seit Jahren insbesondere in den Großstädten zunehmen. »Hinterzimmer oder Shisha-Bars in denen gespielt wird. Das sind tatsächliche Probleme. Es gibt halt Leute, die gerne spielen, die suchen den Kick. Und die sollte man nicht in völlig unregulierte Spielangebote drängen.«
Tatsächlich aber haben die meisten Patienten von Ulrich Kemper ihr Geld in legalen Spielstätten verloren. »Das Dollste, was ich mal hatte, war ein Klient, der eine Firma im Wert von fünf Millionen Euro geerbt hatte«, berichtet der Mediziner. »Er hat es geschafft, das gesamte Vermögen innerhalb von zwei Jahren komplett zu verzocken.«
Viele Glücksspielabhängige erleben Werbung für Bonusangebote oder Sondergewinne als Beschleuniger ihrer Sucht. »Das taucht ja ständig auf«, sagt ein junger Mann. »Im Internet und im Fernsehen wird dir ständig angeboten: ›Wenn du jetzt 10 Euro auflädst, kriegst du 300 Prozent Bonus.‹ Und dann glaubst du halt wieder an dein Glück. So habe ich online angefangen. Erst mal mit hundert Euro. Dann waren es tausend Euro und aus tausend Euro sind es immer mehr geworden.«
Die durch die Pandemie beschleunigte Verschiebung des Glücksspiels von Standort-Casinos ins Internet hat die Situation weiter verschärft. In seinem Klinikalltag merkt Ulrich Kemper deutlich, dass viele Menschen während der Pandemie mehr Zeit hatten, zu Hause die Plattformen der Onlineanbieter auszuprobieren. »Die Leute können ihren PC in ihrem Zimmer anmachen und da spielen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wird gespielt. So fallen noch mehr Hemmungen.«
Der neue Glücksspielstaatsvertrag
Seit Inkrafttreten des ersten Glücksspielstaatsvertrags im Jahr 2008 wurden viele Änderungen verhandelt, weil es im Internet immer neue Angebote gab. Mit der aktuellen Version des Vertrags werden Online-Glücksspiele wie Poker, Roulette oder Online-Automatenspiele bundesweit legal. Gleichzeitig treten neue Regeln zum Spielerschutz in Kraft. Doch die reichen nicht aus, meint Ulrich Kemper: »Wir hätten uns eine viel viel stärkere Regulierung gewünscht.«
Zum Beispiel verbietet der neue Staatsvertrag zeitgleiches Spielen auf mehreren Websites. Um das zu garantieren, sollen die Daten aller Spieler bundesweit in einer noch zu schaffenden Behörde in Sachsen-Anhalt zusammenlaufen. Bisher funktioniert diese Kontrolle nicht, und der Lobbyist Mario Hoffmeister hat Zweifel, ob sie überhaupt umgesetzt werden kann: »Um von einem Online-Casino zum nächsten zu wechseln, muss man eine Wartezeit von fünf Minuten einhalten. Das muss auf Servern auf gigantischen Abgleichcomputern irgendwie sichergestellt werden. Ein riesiger IT-Aufwand. Und all das sorgt dafür, dass das legale Spiel noch unattraktiver wird. Da stellt sich die Frage, wie sinnvoll das ist.«
Die meisten Hersteller von Glücksspielautomaten sind längst selber online aktiv. Für sie sind die neuen Regeln schlecht fürs Geschäft. Das monatliche Einzahlungslimit pro Person soll auf tausend Euro begrenzt sein. Bei virtuellen Spielautomaten soll das Einsatzlimit pro Drehrunde nur noch einen Euro betragen. Eine tatsächliche Umsetzung all dieser Regeln würde für Zehntausende pathologischer Glücksspieler den Suchtdruck deutlich verringern, ist sich einer der Patienten in der Bernhard-Salzmann-Klinik sicher: »Im Online-Casino kann man auch am Handy spielen. Manchmal war ich bis zu zwanzig Stunden am Tag am Handy. Auch bei der Arbeit habe ich gespielt. Diese Apps kann man schnell öffnen und zack, geht es weiter. Du verlierst das Bewusstsein für die reale Welt.«
Künftig soll es eine zentrale Spielersperrdatei für alle Online-Glücksspiele geben, so dass spielsüchtige Personen von allen Glücksspielangeboten ausgeschlossen werden. Viele Spieler aber rechnen nicht damit, dass sich viel ändert. Solange sie irgendwo Möglichkeiten sehen, einen großen Gewinn zu machen, werden sie einen Weg finden, mitzuspielen.
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