Weiterer Schritt zum Überwachungsstaat

Koalition will Staatstrojaner auch gegen Personen einsetzen, die noch keine Straftat begangen haben

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 3 Min.

In wenigen Monaten wird sich Bundesinnenminister Horst Seehofer aus der Politik zurückziehen. Nach der Bundestagswahl im Herbst soll Schluss sein, hat der 71-jährige CSU-Politiker für sich entschieden. Doch das bedeutet nicht, dass Seehofer bereits eine »lahme Ente« in der Politik wäre. Vielmehr hat er nun in der Koalition mit der SPD nach langen internen Debatten einen Gesetzesentwurf durchgesetzt, der es in sich hat. Dabei geht es um die Zukunft der Bundespolizei. Sie soll nach dem Willen der Bundesregierung bald die Möglichkeit erhalten, Staatstrojaner gegen Personen einzusetzen, die noch gar keine Straftat begangen haben. Der Einsatz solle »sich gegen Personen richten, gegen die noch kein Tatverdacht begründet ist und daher noch keine strafprozessuale (Telekommunikationsüberwachung) angeordnet werden kann«, berichtete die Plattform netzpolitik.org am Dienstagabend.

Außerdem sollen alle 19 Geheimdienste Staatstrojaner erhalten. Diese Staatstrojaner basieren auf Schadsoftware, die über Sicherheitslücken eingeschleust werden. Geheimdienste und die Polizei benötigen also offene Sicherheitslücken in Geräten wie beispielsweise Mobiltelefonen.

Oppositionspolitiker warnten am Mittwoch vor zunehmender staatlicher Überwachung. »Diese Gesetzesänderungen sind ungeheuerlich und ganz klar verfassungswidrig, denn ihre erheblichen Grundrechtseingriffe, insbesondere die Anwendbarkeit des Staatstrojaners auch ohne begründeten Tatverdacht, sind alles andere als angemessen«, sagte die Linke-Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg gegenüber »nd«. Auch ob Staatstrojaner überhaupt geeignet seien, habe die Bundesregierung bisher nicht nachweisen können. »Und das, obwohl laut Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs genau ein solcher Nachweis für derartige Grundrechtseingriffe unabdingbar ist«, monierte die Linke-Politikerin. Die Folge sei, dass die Große Koalition die Schwächung der IT-Sicherheit für alle Nutzerinnen und Nutzer weltweit in Kauf nehme. Denn die für den Staatstrojaner offen gehaltenen Sicherheitslücken bleiben auch für Kriminelle und fremde Geheimdienste offen.

Auch Politiker der Grünen machten deutlich, dass sie dem Entwurf, der am Donnerstag vom Bundestag verabschiedet werden soll, nicht zustimmen werden. »Die Anpassung des Verfassungsschutzrechts zeigt erneut: Die Große Koalition ist eine echte Gefahr für die IT-Sicherheit in Deutschland«, sagte Fraktionsvize Konstantin von Notz dem »nd«. Er erinnerte an die »erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken«, welche die Koalition ignoriere. Zudem stellte der Grünen-Politiker die Wirksamkeit des Trojaners in Frage.

»Weder hat er beim schrecklichen Anschlag auf dem Breitscheidplatz helfen können, noch hat er die Attentate von Halle oder Hanau verhindert«, erklärte von Notz. Die Große Koalition verliere sich in Scheindebatten, anstatt die wirklich drängenden Fragen anzugehen. »Es braucht nun dringend eine Reform des gesamten Sicherheitsbereichs samt effektiverer Kontrolle der Nachrichtendienste«, forderte er. Das Gesetz sei keine Reform, es sei nicht einmal ein Trostpflaster.

In der SPD gibt es wegen der Einigung mit der Union beim Bundespolizeigesetz Ärger. In einem Brandbrief forderte die Juso-Spitze am Mittwoch alle SPD-Abgeordneten auf, gegen die Vorhaben zu stimmen. »Wir möchten euch erinnern, dass insbesondere die Arbeit der Verfassungsschutzämter in den letzten Jahren vor allem durch Skandale geprägt war. Diesen Behörden mehr Möglichkeit einzuräumen, ist nicht klug«, heißt es in dem Brief.

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hatte einst behauptet, ihre Partei werde bei den Überwachungsplänen nicht mitmachen. »Ich lehne Staatstrojaner in Händen der Dienste auch dann ab, wenn Berufsgeheimnisträger ausgeschlossen wären. Das geht einfach gar nicht«, erklärte die Bundestagsabgeordnete in einem Statement, das sie im Mai 2019 über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitet hatte. Trotzdem sind die Sozialdemokraten der Union in der Innenpolitik nun wieder einmal sehr weit entgegengekommen.

Was sie dafür von den Konservativen erhalten haben, ist unklar. Bekannt wurde aber nun auch, dass sich die Koalition auf letzte Details des geplanten Rechtsanspruchs für eine Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern geeinigt hat. Das Vorhaben war ein Herzensanliegen der wegen Plagiatsverdachts zurückgetretenen SPD-Familienministerin Franziska Giffey.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!