Ab jetzt wird schöner gewonnen

Italiens Fußballer wollen endlich wieder um den EM-Titel mitspielen und ändern dafür ihre Spielweise

  • Tom Mustroph, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Olympiastadion in Rom ist gerüstet. An jedem der 48 Eingänge sind Fiebermessgeräte installiert. Das Stadion betreten darf nur, wer ein negatives Testergebnis vorweist, laut ärztlichem Attest in den letzten sechs Monaten von Covid-19 genesen ist oder bereits mindestens die erste Impfdosis im Körper hat. Für dennoch auftretende Verdachtsfälle auf eine Infektion unter den bis zu 16 000 Zuschauern und etwa 3000 Beschäftigten im Stadion wurden Isolationsräume eingerichtet.

Bei aller Vorsicht steigt in Italien die Vorfreude auf die EM. Erinnerungen an 1990 werden wach. Auch da bestritt Italien sein erstes Match des damaligen WM-Turniers in Rom. Roberto Mancini, der heutige Cheftrainer ist, erlebte als Spieler von der Bank den 1:0-Siegtreffer gegen Österreich durch Salvatore Schillaci. Italien wurde damals Dritter, Schillaci Torschützenkönig des Turniers.

Einen Torjäger wie den quirligen Sizilianer hat Mancini derzeit nicht im Aufgebot. Der frühere Dortmunder Ciro Immobile und der Turiner Andrea Belotti sind solide Mittelstürmer, zum Träumen laden sie aber nicht ein. Für eine Überraschung könnte der von der U21 hochgeholte und sehr bewegliche Giacomo Raspadori von der Talentschmiede in Sassuolo sorgen.

Trotz des Fehlens eines Mittelstürmers von Gewicht sind die Ziele vor dem Turnier aber sogar höher als das Endresultat bei der letzten Heim-WM. »Wir wollen ins Finale. Und wir können das erreichen«, meinte Trainer Mancini. Er hat zumindest schon mal ein Zwischenziel erreicht: Nach dem desaströsen Verpassen der WM 2018 ist das Vertrauen in die Squadra Azzurra wieder hergestellt. »Die Mannschaft will Vergnügen bereiten und gewinnen«, charakterisierte der »Corriere della Sera« die neue Ära unter Mancini. Die zeichnet sich durch eine Abkehr von den Traditionen aus. Früher wollte Italien auch gern gewinnen - und tat es häufig. Wie das Ergebnis zustande kam, zählte aber wenig. Hinten wurde dicht gemacht, und vorn sollte individuelle Klasse für die Tore sorgen.

Nun haben sich die Verhältnisse geändert. Torgaranten wie einst Schillaci, Paolo Rossi, Christian Vieri oder Luca Toni gibt es nicht. Die alte Abwehrgarde ist teils in den Ruhestand verabschiedet worden wie Torhüter Gianluigi Buffon. An anderen nagt der Zahn der Zeit: Giorgio Chiellini (fast 37) und Leonardo Bonucci (34) waren nie schnell. Jetzt müssen sie ihr Heil noch stärker als zuvor im Antizipationsvermögen suchen.

Im Gegenzug ist der Angriff der Squadra Azzurra aber zur kollektiven Torfabrik geworden. Die 37 Tore in zehn Qualifikationsspielen wurden von 19 Spielern erzielt. Elf von ihnen sind auch jetzt im Aufgebot. Weil der Kombinationsturbo auf Hochtouren lief und den Ball oft in den eigenen Reihen hielt, wurden auch nur vier Gegentreffer zugelassen. »Unsere Stärke ist unsere kollektive Geschlossenheit«, meint Manuel Locatelli. Der Mittelfeldspieler von Sassuolo soll im Eröffnungsmatch am Freitag den angeschlagenen Spielmacher Marco Verratti ersetzen. Auch ohne den Pariser Profi ist die Zentrale aber gut besetzt. Für kluge lange Bälle ist der mit dem FC Chelsea gerade Champions-League-Sieger gewordene Jorginho zuständig. Für präzises Passspiel und die frühe Unterbrechung gegnerischer Angriffe sorgt Nicolò Barella. Der 24-jährige Sarde führte zuletzt Inter Mailand zum Titel in der Serie A.

Jetzt soll er Ähnliches mit der Nationalauswahl anstellen. Zeit wäre es. »Der letzte Europameistertitel für uns war 1968. Es wäre schön, wenn jetzt die Fortsetzung käme«, meinte Luigi »Gigi« Riva, damals Angreifer des Titelträgers. In seiner Fußballschule in Cagliari lernte auch Barella das Ballspiel. »Er ist ein toller Fußballer - und kann mein Nachfolger werden. Erst Riva 1968, jetzt Barella - das wäre fantastisch«, malte sich Riva schon die Plaketteninschrift aus.

Sieben Matches liegen vor diesem Erfolg. Gleich das erste wird eine Herausforderung. »Das könnte auch schon das Finale sein«, spekulierte Fatih Terim, Ex-Nationaltrainer der Türkei und durch seine Trainerstationen in Mailand und Florenz auch mit dem italienischen Fußball bestens vertraut. »Italien ist durch Roberto Mancini sehr gewachsen, und die Türkei kann die Überraschung dieses Turniers werden«, meinte Terim.

Die Truppe stützt sich auf ein Trio: Burak Yılmaz, Yusuf Yazıcı und Zeki Çelik vom französischen Meister OSC Lille. Dazu kommt Spielmacher Hakan Çalhanoğlu von AC Mailand. Yılmaz ist ein Mittelstürmer alter Güte, Yazıcı und Çalhanoğlu diktieren im Mittelfeld, Çelik verstärkt die Defensive. »Durch die vielen Spieler im Ausland hat die Qualität zugenommen«, bilanziert Terim, der vor genau 25 Jahren die Türkei erstmals zur EM brachte. Seitdem wurden ein dritter WM-Platz 2002 und das EM-Halbfinale 2008 erreicht. Für die Qualität des aktuellen Kaders bürgen ein Sieg und ein Remis gegen Weltmeister Frankreich in der Qualifikation.

Die Italiener sollten also gewarnt sein. Und nichts geht hier schneller als der Umschlag von Euphorie in Depression, wenn die Erwartungen mal einen Dämpfer erleiden.

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