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  • Kultur
  • Rolf Dieter Brinkmann

Ein totes Stinktier

Es wird wieder warm. Wie fühlte sich Rolf Dieter Brinkmann 1974 in Austin, Texas?

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 8 Min.

Noch so ein beschissen heißer Tag. Und das schon im Mai. In Köln würden sie gleich einen Jahrhundertfrühling ausrufen, aber in Austin kräht kein Hahn danach, die haben sich an die Scheißsonne gewöhnt. Aber irgendwas macht sie doch mit den Texanern. Rote Nacken.

Brinkmann verschattet die Augen mit einer Hand und schaut zum Bibliotheksturm hoch. Von der Hitze aufgeweichte Sätze, Wörter, Silben suppen darin herum, nehmen den jungen Menschen alle Luft zum Atmen. Wie hoch ist dieser Bücherstapel? Er hat es gelesen, aber sofort wieder vergessen. An die hundert Meter, schätzt er.

Der erste Popliterat

Rolf Dieter Brinkmann war der erste deutsche Pop-Schriftsteller. Geboren 1940 in Vechta, gestorben 1975 in London, weil er den Linksverkehr nicht beachtete. Er brach die Schule ab und machte eine Lehre als Buchhändler. Anfang der 60er heiratete er Maleen Kramer und lebte mit ihr und ihrem gemeinsamen Sohn in Köln. Beeinflusst von Beat-Literatur und Pop-Art, schrieb Brinkmann Lyrik und Prosa.

Er wollte den Gegensatz von »High« und »Low«, von Hoch- und Trivialkultur, auflösen und orientierte sich an Film und Collage. Im Frühjahr 1974 war er Gast am »German Department« der Universität Austin, Texas. Es war sein letzter großer Auslandsaufenthalt. Der Braunschweiger Schriftsteller Frank Schäfer hat ihn rekonstruiert.

Ein traumatisierter Marine hatte von dort oben richtig Beute gemacht. Er kam mit seinem Architekturstudium, seinem Mädchen oder seinem Vater nicht mehr klar und stieg mit der Rifle nach oben in die Aussichtsplattform, um sich an Amerika zu rächen, das ihn in die Welt gesetzt hatte und jetzt nicht mehr wollte. Sechzehn Menschen. Vielleicht fragt er morgen seine Studenten nach dem Mann, denkt Brinkmann. Nein, nicht nach ihm, nach den Ermordeten. Über sie wird keiner etwas sagen können. Vielleicht wäre das eine Aufgabe fürs Seminar. Jeder schreibt eine Skizze über den letzten Tag eines der Opfer. Geschichte sollte keine der Täter sein, aber sie ist es doch ... Weil man sich an diesen großen Sohn der Stadt immer noch so gut erinnert, darf man nicht mehr allein nach oben auf die Aussichtsterrasse, nicht ohne offizielle Führung.

Ihm wird schwindelig und so senkt er den Blick und bemerkt ein Paar, das eng umschlungen an ihm vorbeidefiliert, ohne ihn anzusehen. Sie sind ganz mit sich beschäftigt. Er ärgert sich über das Bild. Auch weil er merkt, dass er sie beneidet. Er könnte dieses Gefühl beschreiben in einem Gedicht und er kann es sogar lokalisieren in der Brust. Ein Gefühl der Enge, als ob irgendein alter Gott das Herz mit seiner Pranke umfasst und langsam zudrückt. Es ist auch nicht der Neid, den er da spürt, das weiß er, sondern Einsamkeit.

Jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Im Villa Capri Motor Hotel, nahe beim National Interregional Highway, war er so allein wie niemals zuvor. Wie ausgesetzt in einer Wüste, wenn auch in einer Oase mit Swimming Pool. Daneben aber gleich die tote Palme, eingegangen am Chlor. Er war allein wie alle anderen auch hier, die Lexikon- und Staubsaugervertreter, die Handlungsreisenden des amerikanischen Albtraums, oder was auch immer diese Leute in Texas’ Hauptstadt suchten.

Maleen fehlt ihm. Ihr weiches Haar, die großen Augen, ihr blasser Körper, die schmalen Schultern. Ihre Klarheit. Manchmal kommt es ihm vor, als ob er sie aus der Entfernung erst richtig mag. Schon in Rom hat er das so empfunden, auch in Longkamp, Hunsrück. Andere entfremden sich, sie kommen sich näher mit der Distanz. In der alten Haubrichmühle bei Bauer Forleyko, ohne Weed und Apomorphin, nur ein paar Zigaretten, schreibt er ihr Briefe, tippt sie herunter, halbautomatisch. Hier in Austin, Tausende Kilometer entfernt vom Kölner Slum, seinem Dreizimmerzuhause, spürt er ihr Haar, wenn er die Hand ausstreckt. Der kleine Robert, der nach seinem Daumen greift. Sehnsucht potenziert die Imaginationskraft.

Er schlendert zurück zum Voyageurs Apartment 311 East 31st Street, wo man ihn nach ein paar Tagen einquartiert hat. Es ist besser hier, aber immer noch grässlich. Unsinn. Er weiß, dass er sich selbst etwas vormacht, dass es ihn ärgert und an seinem Ego kratzt, wie komfortabel ein stinknormaler Bummelstudent hier lebt, und wie er im Vergleich dazu in Köln mit seiner Familie hausen muss.

Brinkmann sieht die grünbraune Schildkröte, die im Teich schwebt. Sie muss sich nicht mal bewegen. Der Traum vom Süden. Benns Regressionsfantasien. Keinen Verstand haben, nur so dahindümpeln mit dickem Panzer, fressen und ficken, ohne natürlichen Feind, abgesehen von den paar Suppenliebhabern. Das ist auch keine Lösung. Wir müssen einmal rum um die Welt, um zu schauen, ob das Paradies einen Hintereingang hat. Für die Lieferanten der gebratenen Täubchen.

Er bemerkt seinen stinkenden Achselschweiß. Nicht mal seine Mutter konnte den riechen. Wie dein Vater! Naserümpfend. Nicht gerade eine Liebesbekundung. So langsam kann er gar nicht gehen, dass er hier nicht ins Schwitzen gerät. Aber die Eichen spenden Schatten. Brinkmann nimmt Platz zwischen zwei Wurzelarmen und lehnt sich mit dem Rücken an den Stamm. Tie a yellow ribbon round the ole oak tree. Im Frühling verlieren sie hier die Blätter, die neuen grünen verdrängen die alten des Vorjahres.

Auf der Fahrt nach San Antonio mit Hartmut und Betsy sah er noch andere, ältere Eichen. Knorrige, grantige Individuen mit einem anderen Zeitempfinden. Die beiden amüsierten sich, weil er sie immer wieder zum Anhalten auffordert, um Fotos zu machen von diesen Baumgreisen. Beim vierten oder fünften Stop dann ein Gestank aus der Hölle. Ein platt gefahrenes Stinktier auf dem von der Vormittagssonne aufgeweichten Asphalt. Links und rechts Land bis zum Horizont. Es gibt in Texas keine guten Verstecke.

Betsy kurbelt schnell das Seitenfenster hoch, aber es ist schon zu spät, der Todesatem weht herein. Hartmut rümpft die Nase, wie Mutter, und tritt das Pedal durch. Zum Alamo Shrine, dem Wallfahrtsort der US-Patrioten. Und von denen wimmelt es hier. Sie sind laut und lachen und kaufen den Souvenirshop leer. Bandanas, T-Shirts, Säbel, Flaggen. Auch die konföderierte. Hier hatten sich 200 Texaner von mexikanischen Truppen abschlachten lassen für die Unabhängigkeit und die Erlaubnis zum Sklavenhandeln. Remember the Alamo, schreien sie in der folgenden Schlacht und werden schließlich Teil der USA.

Trotzdem ist es einer der schönsten Tage seines Aufenthalts in der Fremde. Hartmut und Betsy sehen in ihm nicht nur den bekannten writer in residence. Sie wollen wissen, was er denkt und fühlt. Sie essen Hamburger in einem Diner, Brinkmann lädt sie ein, weil er dankbar ist, dass sie ihn mitnehmen. Das erste Mal ist er hier ganz bei sich und kann die Pose des Dirty Kraut endlich ablegen. Dass die Sekretärinnen wegen seiner rüpeligen Art Angst vor ihm haben, tut ihm trotzdem nicht leid. Besser sie als er.

Hartmut ist ihm schon im Seminar aufgefallen, er konnte zu Eschenbach und Tieck mindestens genauso viel beitragen wie zu Frank O’Hara und Carlos Castaneda, und ja, er kennt auch einen, der Dope verkauft.

Sie streiten sich, aber auf eine gute Weise, so wie er mit Rygulla und Freyend streiten kann. Die Freunde durchschauen ihn, wenn es mal wieder nur darum geht, Recht zu behalten, und indem sie sanft ironisch reagieren, kommt er selbst zur Vernunft und wird nachgiebig. Brinkmann weiß, wie schwer das Alltägliche zu erkennen ist, wie leicht man es übersieht. Loudon Wainwright und Lou Reed wissen es auch, durch Hartmuts große Boxen geben sie es ihnen laut und deutlich zu verstehen.

Die Professoren am German Department ersparen sich die Mühe des Suchens längst. Für sie ist alles geordnet in quadratischen Sätzen, sie sehen die Welt vor lauter Worten nicht, schwierigen alten Worten, unverständlich gewordenen. Statusworten. Sie blicken auf ihre Bibliothek und denken, wie aufregend doch das Leben sei. Brinkmann hat sie in seinen Lesungen mit Lautstärke und Brutalität aus der Reserve zu locken versucht, das hat sie verstört und geärgert.

Als der Germanist Deluxe Reinhold Grimm für einen Vortrag aus Deutschland eingeflogen kommt, erläutert Brinkmann noch einmal seinen Standpunkt. Hartmut und er haben sich präpariert, einen Flachmann Wild Turkey geteilt, der bringt sie auf Touren. Phrasendrusch wirft Brinkmann dem Professor vor und zählt ihm dann die Belege auf, eine lange Liste. Spätestens jetzt hassen sie ihn und sind froh, dass er bald wieder heimfliegt. Nur der gute alte Leslie Willson, der ihn nach Austin geholt hat, lächelt bewundernd. Grimm macht den Fehler und verteidigt sich. All die Klischees habe er absichtlich eingebaut! Da lachen sogar die Kollegen, die wissen, dass hier einer stellvertretend für sie fertiggemacht wird. Brinkmann zerknüllt seine Liste, wirft sie in den Abfalleimer und verlässt mit Hartmut den Raum. Sie gehen ins One Knight, hören eine Bluesband und trinken weiter, Bourbon und Bier. Später trägt man ihm zu, Willson habe sich anschließend zum Papierkorb geschlichen und das Blatt herausgeklaubt.

Er ist Willson dankbar, mehr, als er es ihm je sagen kann. Hartmut und Willson haben ihm die Gewissheit zurückgegeben, ein Dichter zu sein. Als er selbst schon nicht mehr daran glaubt, zeigen sie ihm, jeder auf seine eigene Weise, wie sehr sie seine Arbeit bewundern und dass sie von ihm noch etwas erwarten.

Er steht auf, klopft sich die Erde vom Hosenboden und macht sich auf den Weg zum Apartment. Der Tag endet ohne Hast. Die Abendsonne steht anmutig über den Baumwipfeln. Brinkmann lächelt.

Verwendete Literatur: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Erweitere Neuausgabe, 2005; ders: Eiswasser an der Guadelupe Str., 1985; Thomas Böhm, Roberto Di Bella: »Er war ja so sensibel. Dr. Hartmut Schnell im Gespräch mit dem Literaturhaus Köln« in »Orte - Räume«, Mitteilungsblatt der Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft, 2002; Markus Fauser, Dirk Niefanger, Sibylle Schönborn (Hg.): Brinkmann-Handbuch, 2020; Christof Siemes: Texas: »Der große Ritt« in »Die Zeit«, 1.7.2016; Hartmut Schnell: »1974-75« in Maleen Brinkmann (Hg.): Rowohlt Literatur Magazin. Rolf Dieter Brinkmann. 1995; A. Leslie Willson: »Der schöne, einzigartige Brinkmann« in Maleen Brinkmann 1995 a.a.O.

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