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Weltmarkt und Widerstand
Von den Fabriken zu den Plantagen: Schwarzer Marxismus als Perspektivwechsel und politisch-geografischer Raum
Am 10. Mai dieses Jahres war es wieder soweit: Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron beging einen Pflichttermin im Élysée-Palast. Seit 2006 erinnern französische Präsidenten an die Sklaverei und gedenken ihren Opfern. Die Welt- und Kolonialmacht Frankreich verdiente gut an dem Verkauf und der Ausbeutung menschlicher Arbeitskräfte, Millionen Menschen wurden versklavt. In der Französischen und Haitianischen Revolution wurde die Sklaverei zunächst beseitigt, unter Napoleon wieder eingeführt und 1848 offiziell abgeschafft. Das hindert freilich auch das gegenwärtige Frankreich nicht, seinen Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent zu sichern - mit Militär, Währungs- und Wirtschaftspolitik.
Die Abschaffung der Sklaverei dürfte in linken Debatten unstrittig sein, und doch gibt es um den Begriff einige Kontroversen. Denn so offensichtlich ihre Rolle im expandierenden Kapitalismus der Neuzeit auch ist, so umstritten ist die Bedeutung dieser Form der Zwangsarbeit für die Entstehung des globalen Kapitalismus. Die Sklaverei wirft gleichzeitig die Frage danach auf, wie »frei« die freie Lohnarbeit tatsächlich ist. Wollte Marx seinerzeit das Freiheitsversprechen der Menschenrechte auf knallharte ökonomische Bedingungen rückbeziehen und als Schein entlarven, wird der Begriff »frei« mittlerweile doch buchstäblich aufgefasst. Das widerspricht allerdings der Marx’schen Kritik an Lohnarbeit, die er an anderer Stelle selbst als Lohnsklaverei bezeichnet.
Karl Marx beschreibt im »Kapital« die idealtypische Funktionsweise des kapitalistischen Produktionsprozesses und bezieht sich bei konkreten und historischen Beispielen stets auf Großbritannien, zum Beispiel wenn er die Kämpfe um den Normalarbeitstag als Klassenkampf darstellt. Das Vereinigte Königreich war das Geburtsland der Industriellen Revolution, entsprechend lasse sich der kapitalistische Produktionsprozess am besten dort nachvollziehen. Marx beendet den ersten Band des »Kapitals« mit der Analyse der historischen Entstehung des Kapitalismus und beschreibt dabei die Schaffung eines Weltmarktes als Grundbedingung für kapitalistische Akkumulation. Die globale Linke versuchte diesen Weltmarkt und seine Ungleichheiten und politischen Krisen immer wieder zu verstehen. Die scharfen Debatten um den Begriff des Imperialismus während und nach dem Ersten Weltkrieg oder die einsetzende Diskussion um die sogenannte Dritte Welt zeugen aber von einem theoretisch und praktisch ungelösten politischen Problem.
Perspektivwechsel, Zentrum, Peripherie
Der karibische Marxist Walter Rodney greift die Analyse der ursprünglichen Akkumulation - die Marx zunächst auch für Großbritannien beschrieben hatte, während Rosa Luxemburg später auf deren permanenten und weltweiten Charakter hinwies - in seiner Studie »Afrika: Die Geschichte einer Unterentwicklung« auf. Darin beschreibt er die Schaffung des Weltmarkts aus der Perspektive Afrikas, wo er Anfang der 1970er Jahre in Tansania lebte. Rodney denunziert die postkoloniale Armut des afrikanischen Kontinents nicht etwa als eine Folge kulturalistischer oder geografischer Fragen, sondern als Produkt anhaltender kolonialer Ausbeutung europäischer Staaten. Er spricht dabei von unterentwickelten Ländern statt von Entwicklungsländern, weil dieses Gefälle auf dem Weltmarkt zwischen den imperialistischen Zentren und dem Globalen Süden notwendige Grundbedingung für kapitalistische Akkumulation einerseits und Folge einer Politik dieser Zentren andererseits ist. Ein Aufholen auf das Niveau der europäischen Staaten werde so niemals möglich sein, da die Armut Afrikas den Reichtum Europas erst ermögliche.
Dieser Perspektivwechsel beschreibt im Prinzip das Projekt des Schwarzen Marxismus: Dieser Marxismus versucht die Geschichte des Kapitalismus und den Widerstand gegen ihn aus der (vermeintlichen) analytischen und geografischen Peripherie zu erzählen. So ist C. L. R. James’ Buch »Die Schwarzen Jakobiner«, 1938 erstmals erschienen und demnächst wieder als deutsche Neuauflage verfügbar, nicht nur eine Geschichte des ersten erfolgreichen Sklavenaufstands in der Neuzeit, sondern auch eine Geschichte des Kapitalismus von der anderen Seite des Atlantiks. Entführt uns Marx in die ersten Fabriken des sich gerade industrialisierenden Englands, nimmt uns James mit auf die Plantagen der französischen Kolonien.
So sehr das Bild der Sklaverei von der kolonialen Brille geprägt ist und damit auch das Stigma der Unterentwicklung, so sehr war sie Entwicklungsmotor für den Weltmarkt. Und bei näherer Betrachtung kehrt sich auch das Verhältnis von Zentrum und Peripherie um: Während einige Entwicklungstheorien von einer nachholenden Entwicklung oder eine Luxemburgische Imperialismustheorie von einem nicht-kapitalistischen »Außen«, das sich angeeignet wird, ausgehen, verortet die Tradition des Schwarzen Marxismus das Zentrum kapitalistischer Entwicklung auf den Zucker-, Kaffee- und Baumwollplantagen der Karibik und Nordamerikas. Dort wurde produziert, dort entstand der Kapitalismus.
Kolonien als Motor des Weltmarkts
Mit diesem Dreieckshandel machten vor allem die Großmächte Großbritannien und Frankreich Gewinne und erweiterten ihren politischen Machtbereich. Es ist kein Zufall, dass sie mit ihrer kolonialen Plantagenwirtschaft den Weltmarkt dominierten. Zum einen weckten Zucker und Kaffee neue Konsumbedürfnisse. Absatzmärkte in Europa ließen sich schnell erschließen. Zum anderen wurde mit Baumwolle ein Rohstoff angebaut, der einfach zu verarbeiten und in rauen Mengen verfügbar war. Vor allem Zucker und Baumwolle änderten aber nicht nur die Konsumgewohnheiten der Menschen, sondern auch die Art und Weise des Produzierens. Die erste protoindustrielle Maschine finden wir nicht etwa in der englischen Dampfmaschine, sondern mit der Cotton Gin auf den Sklavenplantagen der nordamerikanischen Südstaaten. Diese Maschine unterstützte den Abbau von Baumwolle. Es ist also historisches Vorurteil, dass Sklavenarbeit vorindustriell organisiert wurde.
Der arbeitsintensive Zucker wurde vor allem auf dem Gebiet des heutigen Haiti angebaut. Die Insel wurde dadurch nicht nur zur ertragreichsten Kolonie in der Karibik, sondern auch zu einem der größten Siedlungsgebiete für Schwarze Sklaven. Der Anbau und die Verarbeitung der »süßen Macht«, wie der linke Kulturanthropologe Sindey W. Mintz den Rohstoffe einmal nannte, führte zu einer Arbeitsweise, in der viele Arbeitskräfte auf engem Raum kooperativ arbeiten mussten. Das Kolonialsystem war damit mehr als eine Begleiterscheinung des Kapitalismus, vielmehr Bedingung für die Anhäufung des ersten Kapitals. Auch die freie Lohnarbeit, so verschleiert die Ausbeutung auch sein mag, konnte sich nur in der Form etablieren, weil in den Kolonien die Ausbeutung offen und unfrei war.
Ende des 18. Jahrhunderts gab es in England zwar auch die Verarbeitung kolonialer Produkte, aber das wurde noch in Heimarbeit erledigt. Währende die Kolonien zu dieser Zeit immer mehr Arbeitskräfte einsogen und die Technik immer ausgefeilter wurde, fanden sich die Orte der politischen Macht wie Manchester eher als Logistikzentren des globalen Kapitalismus wieder. Die linke Philosophin Susan Buck-Morss bemerkt in ihrem Buch »Hegel und Haiti«, dass Manchester zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Stadt der Lagerhäuser war und noch nicht das verrauchte und schmutzige Fabrikzentrum Englands. Buck-Morss vertritt in ihrem Buch die These, dass Hegels »Herr-Knecht-Dialektik« durch den Sklavenaufstand in Haiti inspiriert war, von dem er wohl medial erfuhr.
Spezifische Erfahrung und Widerstand
Schwarzer Marxismus ist damit keine neue Lesart des Kapitalismus, sondern vielmehr eine Revision der Entwicklungsgeschichte dieses Gesellschaftssystems: Dessen Zentrum war zu Beginn die Peripherie. Arbeit und Produkte wurden auf der anderen Seite des Atlantik organisiert. Dadurch entstanden ein globaler Raum und eine Arbeiter*innenklasse, die unterschiedliche Hautfarben, Ausbeutungsbedingungen und Kampftraditionen einschließen.
James’ Haiti-Studie »Die Schwarzen Jakobiner« benennt zum ersten Mal diesen ökonomischen und politischen Raum, der nicht Zentrum und Peripherie kennt. In der linken amerikanischen Sozialgeschichte wurde diese Perspektive teils zum Prinzip erhoben. Mit dem Buch »Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik« prägen die Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker den Begriff des multiethnischen Proletariats, das aus Seemännern, Sklaven und anderen Ausgestoßenen bestand. Sie versuchen sich damit an einem »Gegen-Mythos« zur bürgerlichen Entwicklungsgeschichte des frühen Kapitalismus.
Die transatlantischen Bündnisse kennen wir auch heute noch aus den sozialen Bewegungen: Während in den USA im Zuge von »Black Lives Matter« Aufstände in den Schwarzen Vierteln ausbrechen und die Polizei als Feind der Armen und rassistisch Diskriminierten denunziert wird, werden in Großbritannien Sklavenhändlerstaturen gestürzt und in Südafrika Figuren von rassistischen Kolonisatoren vom Sockel gestoßen. Der Bezug zum Kampf einer Schwarzen Unterklasse und der Angriff auf rassistische Gesetze und Institutionen finden sich dies- und jenseits des Atlantik.
Hakim Adi, der Autor des Buches »Panafrikanismus und Kommunismus«, sagte dagegen bei einem Vortrag bei der Rosa Luxemburg Stiftung über »Black Marxism«, diesen gäbe es gar nicht, sondern lediglich einen Marxismus. Was ist also das Schwarze am Schwarzen Marxismus? Schwarzsein ist in diesem Zusammenhang eine Kategorie, die nicht etwa auf natürlichen Faktoren wie Hautfarbe beruht, sondern durch den Kapitalismus und spezifischer durch den Raum des Schwarzen Atlantik, wie es Paul Gilroy in seinem gleichnamigen Buch nennt, konstruiert wird. In diesem politisch-geografischen Raum muss die Tradition verortet werden. Wenn wir also vom Schwarzen Marxismus sprechen, dann ist es keine kohärente Strömung innerhalb des Marxismus, sondern eine Reihe widersprüchlicher Ansätze, die aber eine zentrale Gemeinsamkeit teilen: nämlich diesen spezifischen Blickwinkel auf den Kapitalismus und den Widerstand dagegen.
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