Algerien wählt ein neues Parlament
Protestbewegung Hirak und Opposition rufen zum Boykott auf
In Algerien, dem flächenmäßig größten Land Afrikas, finden an diesem Samstag vorgezogene Parlamentswahlen statt. Über 24 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, über die Zusammensetzung der 407 Sitze umfassenden Nationalversammlung zu bestimmen. Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune hatte vor drei Monaten die Volksvertretung aufgelöst und deren Neuwahl anberaumt. Nach seiner eigenen Wahl im Dezember 2019 und dem Referendum über eine neue Verfassung im November vergangenen Jahres ist dies die dritte Abstimmung, die die Führung des 43-Millionen-Einwohner-Landes als Lösung für die politische Krise präsentiert.
Diese hatte seit Februar 2019 zeitweise Millionen Menschen friedlich auf die Straße gebracht. Landesweit hatten sie einen radikalen Bruch mit dem alten korrupten System und einen Neuanfang auf demokratischer und rechtsstaatlicher Basis gefordert. Gestützt von den Massenprotesten hatte die Militärführung den damaligen greisen Staatschef Abdelaziz Bouteflika zum Rücktritt gezwungen. Zugleich lehnte sie den Dialog mit der Protestbewegung Hirak ab und ging stattdessen repressiv gegen deren Anhänger*innen vor. Auch die Wahl Tebbounes, der als ehemaliger Minister unter Bouteflika von vielen Menschen dem alten System zugeordnet wird, konnte zahlreiche Algerier*innen nicht vom Neubeginn überzeugen.
Vor allem mit dem Wiederaufflammen der Demonstrationen Anfang dieses Jahres nach mehrmonatiger pandemiebedingter Pause verstärkten Polizei und Justiz ihr Vorgehen gegen Protestierende. Derzeit sitzen nach Angaben der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH) mehr als 200 Personen wegen ihrer regierungskritischen Haltung im Gefängnis, darunter Studierende, Hochschullehrer*innen, Journalist*innen und Anwälte. Seit drei Wochen sind die wöchentlichen friedlichen Freitagsmärsche in Algier und vielen anderen Städten zum Erliegen gekommen.
Angesichts dieser Situation haben die Anhänger*innen der Protestbewegung Hirak sowie mehrere Oppositionsparteien wie die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) und die Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie (RCD) zum Boykott des Urnenganges aufgerufen. So werden die Kandidat*innen vor allem von Parteien gestellt, die auch im alten System unter Bouteflika im Parlament die Mehrheit hatten. Allerdings dürften sich die Nationale Befreiungsfront (FLN), die jahrzehntelang allein herrschte, und deren Schwesterpartei National-demokratische Sammlungsbewegung (RND) angesichts des Vertrauensverlustes nicht mehr wie bisher auf ihre traditionelle Wählerschaft verlassen können. Gleiches gilt für die kleineren islamistischen Parteien, die in den vergangenen Jahren das politische System mitgetragen haben.
Weil der Einfluss der Parteien in der Bevölkerung schwindet, setzen die Machthaber diesmal auf unabhängige Bewerber*innen, die hinter Präsident Tebboune stehen. Den unter 40-Jährigen von ihnen bezahlte der Staat die Wahlkampagne. Diese fand vor allem in den staatlich kontrollierten Medien statt. Meetings brachten oft nur eine Handvoll Interessierter zusammen.
In Ermangelung von Wahlprogrammen und konkreten Vorschlägen für die Zukunft des Landes blieb eine politische öffentliche Debatte aus. Der Soziologe Nacer Djabi findet, dass vielen Kandidat*innen »das tiefere Verständnis für Politik« fehlt. Die Kampagne habe eher deren »Mittelmaß« offengelegt. »Dagegen hat gerade die Protestbewegung der vergangenen zwei Jahre das große Interesse und politische Engagement der Bevölkerung unter Beweis gestellt«, meint er. Er rechnet daher mit einer »historisch niedrigen« Wahlbeteiligung, die das Problem der fehlenden Legitimation des Parlaments weiter ungelöst lasse.
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