Wissenschaft als Marketing

Leo Fischer über drittmittelfinanzierte Doktorarbeiten, für die Homer zum Neuro-Marketing-Guru wird

Wissenschaft ist die Produktion von Vernunft; sie macht vernünftig, was vorher unvernünftig erschien. Vor knapp zehn Jahren stürzte ein Bundespräsident über ungenaue Hotelrechnungen, heute kann man mit »Täuschungen« in der Doktorarbeit nicht nur Parteivorsitzende bleiben, sondern sich sogar selbstbewusst für die Regierung eines ganzen Bundeslandes bewerben. Man wolle jetzt in die Zukunft schauen, heißt es aus ihrem Umfeld, wo man vernünftigerweise darauf vertraut, dass sich die Öffentlichkeit in zwei Wochen schon nicht mehr an den Skandal erinnern kann.

Für die Funktion einer wissenschaftlichen Arbeit im Kapitalismus ist es unerheblich, ob sie rechtmäßig zustande gekommen ist. Nicht erwischt zu werden, ist auch eine Qualifikation. In Deutschland dürften hunderte Funktionsträger auf fingierten Doktorarbeiten sitzen, die in einer Zeit vor dem Internet entstanden sind; ihre Enttarnung wäre nur eine Frage der Zeit und des öffentlichen Interesses. Sie alle werden den Berliner Fall mit großem Interesse verfolgen: Kommt sie damit durch? Wenn ja, können auch sie erleichtert aufatmen.

Die legitimierende Funktion von Wissenschaft ist in der Coronakrise ohnehin erodiert: Springer hat hauseigene Virologen, die Querdenker die ihren, und alle sagen brav auf, was ihre jeweilige Klientel hören sollte - wissenschaftliche Positionen sind lediglich eine Marketing-Maßnahme unter vielen. Wo es einen Fachkonsens gab, konnte der von Ministerpräsidenten straflos ignoriert werden - es gab ja auch »andere Stimmen«, etwa die von Wirtschaftsverbänden.

Was ist eine Dissertation wert? Ein 5000 Euro höheres Jahreseinstiegsgehalt; was drinsteht, ist nicht so wichtig. Abseits der Funktion für den Lebenslauf könnte die Achtung der Wissenschaft kaum geringer sein als heute, auch die Selbstachtung. Unter dem Hashtag ichbinhanna schildern vor allem Frauen derzeit auf Social Media, wie das durchkapitalisierte Wissenschaftssystem darauf setzt, dass sich die klügsten Köpfe zwölf Jahre lang von befristeten halben, Viertel- und Achtelstellen von Stadt zu Stadt schleppen, zu einem Salär, zu dem andere nicht einmal ein Praktikum anfangen würden. Währenddessen schreiben Ghostwriting-Agenturen der jeunesse dorée ihre Hausarbeiten bis hin zur Masterarbeit.

Nahezu widerstandslos haben sich die Universitäten dem Bologna-Prozess unterworfen, haben sich Autohändler als Präsidenten vorgesetzt, Hörsäle nach Supermärkten benannt und am Frankfurter Adorno-Platz ein »House of Finance« installiert. Der Kommentar eines amerikanischen Forschers, aus den USA kenne er nur ein »House of Pancakes«, ein »House of Finance« hätten die Deutschen exklusiv, tat dem Ansehen keinen Abbruch. In dem lächerlichen Anglizismus steckt die ganze Ideologie: In einem provinziellen Schein-Internationalismus hat sich die deutsche Wissenschaft der Wirtschaft in einer Weise unterworfen, die amerikanische Universitäten niemals mit ihrer Würde vereinbaren könnten. Auf der Jagd nach »Drittmitteln« müssen Gräzist*innen schauen, ob man Homer-Forschung nicht eventuell mit Neuro-Marketing verbinden kann, ansonsten wird der Fachbereich leider geschlossen. Auf Steuerzahler*innenkosten schaffen die aufgeblähten Parawissenschaften im BWL-Segment stetig die ideologische Begründung für die Abschaffung der übrigen Wissenschaften, die sich wiederum nur durch Bezugnahme auf die BWL retten zu können glauben.

Was bedeutet vor diesem Hintergrund schon eine gefälschte Dissertation? Gibt es überhaupt eine richtige Dissertation im falschen System?

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