Kleine Schritte, große Wirkung

Der neue US-Präsident will Stabilität in der Beziehung mit Moskau. Doch dass er Putin im März als Mörder bezeichnete, dürfte nachwirken

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Amerikanisch-sowjetische Gipfeltreffen sind schon früher unter äußerst belastenden Vorzeichen vorbereitet worden. Aber selbst in kältesten Zeiten des Kalten Kriegs gab es keine Ouvertüre wie zum anstehenden Gipfel in Genf. US-Präsident Joe Biden war zwar derjenige, der den russischen Präsidenten zur ersten Begegnung einlud. Er war aber auch derjenige, der vor kurzem erst sein Gegenüber als Mörder bezeichnet hatte. Der 17. März geht in die Geschichte der amerikanisch-russischen Beziehungen als der Tag ein, an dem der Präsident im TV-Interview ankündigte, für Wladimir Putin werde es Konsequenzen haben, dass Russland die US-Wahl 2020 beeinflussen wollte, um Donald Trump zum Sieg zu verhelfen. Moskau habe Biden schaden und Unfrieden im Land säen wollen. Auf die Frage des Moderators, ob er Putin für einen Mörder halte, antwortete Biden: »Das tue ich.«

Anlass der Entgleisung war ein Bericht der US-Geheimdienste über ausländische Versuche, die Wahl 2020 zu beeinflussen. Ganz oben auf der Liste stand Russland, wie schon 2016, als Moskau die Kandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, sabotiert hatte. Im Vorjahr nun, so die Dienste, habe Moskau Bidens Kandidatur zu schwächen und Trump im Amt zu halten versucht. Das Fazit der Geheimdienste im Report vom 16. März: »Wir sind der Meinung, dass der russische Präsident Putin eine breite Palette von Operationen genehmigt hat, die zum Ziel hatten, die Kandidatur von Präsident Biden und die Demokratische Partei abzuwerten, dem früheren Präsidenten Trump zu helfen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wahl zu untergraben und die sozialpolitische Spaltung in den USA zu vertiefen.«

Was Biden ebenso wenig entgangen war: Erst sechs Wochen nach seinem Wahlsieg hatte ihm Wladimir Putin gratuliert. Bei Trump vier Jahre zuvor war der Kreml gleich nach Ergebniseingang in der Leitung gewesen.

Großer Gipfel, kleine Erwartungen
Russland blickt mit Zurückhaltung auf das Gipfeltreffen zwischen Putin und Biden. Doch ein gemeinsames Kommuniqué ist schon in Arbeit

Vor diesem Hintergrund, der keine Sternstunde Biden’scher Besonnenheit war, jedoch den ramponierten Zustand der Beziehungen USA-Russland bezeugt, kommt es nun zum Gipfel. Ist er allein deshalb zum Scheitern verurteilt? Nicht unbedingt, wie das Vorbereitungstreffen, die ebenfalls erste persönliche Begegnung der Außenminister Antony Blinken und Sergej Lawrow in Island bei der Arktischen Ratstagung, zeigte. Aus amerikanischer Sicht sei es, anders als Blinkens erste Begegnung mit Vertretern Chinas, sachlich und kooperativ verlaufen. »Nicht beste Freunde, aber auch nicht schlimmste Feinde«, resümierte eine Beobachterin aus dem Umfeld der US-Delegation. Allerdings fiel auf, dass Lawrow eher die Themen möglicher Kooperation betonte: globale Fragen der Corona-Pandemie und des Klimawandels, die nuklearen Ambitionen des Irans und Nordkoreas oder die Lage in Afghanistan. Dagegen hob Blinken eher die Konfliktfelder hervor: Ukraine, Syrien, Vergiftung und Repressalien gegen den russischen Oppositionellen Nawalny oder die Militarisierung der Arktis. So offenbarte sich, wie weit man voneinander entfernt, beiderseits aber auch bereit ist, miteinander zu reden, in der gleichfalls von beiden betonten Erwartung, dies könne die Welt sicherer machen.

Blinken, seit Langem persönlich wie politisch an der Seite des Präsidenten, versteht sich wie dieser als »geborener Internationalist«, Verfechter einer US-Führungsrolle bei gleichzeitig multilateraler Zusammenarbeit in der Welt, als Befürworter einer starken Nato und enger Kooperation mit der EU. Auf einer seiner ersten Missionen besuchte er im März den »alten Kontinent« und verkündete jene Positionen, die der Präsident dieser Tage beim G7-Treffen in Cornwall, bei der Nato in Brüssel und gegenüber Putin in Genf einnehmen könnte. Blinken kündigte damals den inzwischen verfügten Stopp des von Präsident Trump geplanten Abzugs von US-Truppen aus Deutschland an. »Diese Entscheidung war verrückt und ein strategischer Verlust«, sagte er. »Sie schwächt die Nato, hilft Putin und schadet Deutschland, unserem wichtigsten Verbündeten in Europa.« In China sieht Blinken »eine wachsende und die wohl größte Herausforderung« für die USA, und zwar »ökonomisch, technologisch, militärisch und selbst diplomatisch«. Wohl auch mit Blick auf diesen, aus US-Perspektive Hauptrivalen China sagte Blinken, die USA wünschten sich eine »berechenbare Beziehung« mit Russland.

Inzwischen lieferte auch Joe Biden Anhaltspunkte für Genf. In der »Washington Post« skizzierte er Eckpunkte für seine erste Auslandsreise. Nach den zerstörerischen Jahren seines Vorgängers wolle er Trumps Erbe beenden, die Allianzen mit Amerikas Verbündeten erneuern und »die demokratischen Länder der Welt aktivieren«. Einmal mehr brachte Biden die Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lage in den USA, insbesondere die Situation der Arbeiter- und Mittelschicht, mit der Sicherung der bürgerlichen Demokratie in Verbindung. Amerikas Demokratie werde nur überleben, so ein Kernmotiv seiner an Franklin Roosevelt erinnernden Pläne, wenn die USA eine faktisch sozialdemokratische Transformation bei größerem, nicht kleinerem Engagement des Staates schafften. Hier zeigt sich ein Präsident, der von der Erfahrung der Trump-Jahre und eines immer tiefer gespaltenen Landes zugleich verschreckt und getrieben ist.

Joe Biden ist kein Neuling, was die Gestaltung der Beziehungen zu Russland betrifft. Das erste Mal direkt damit zu tun hatte er als Vorsitzender des Senatsausschusses für Internationale Beziehungen, dann als Vize unter Barack Obama und 2020 als Präsidentschaftskandidat. In dieser Eigenschaft versprach er, das von Trump peinlich praktizierte Techtelmechtel gegenüber Putin zu beenden. Kurz vor der Wahl warf der Kandidat Biden der Regierung Putin die Vergiftung Alexej Nawalnys vor. »Es ist bezeichnend für ein russisches Regime, dass es so unter Verfolgungswahn leidet, dass es unwillig ist, jegliche Kritik oder Meinungsverschiedenheit auszuhalten«, sagte der spätere Präsident.

Die Wochen um das »Killer«-Interview spiegelten den Achterbahncharakter der bilateralen Beziehungen besonders stark. Als Reaktion auf das Interview zog Moskau seinen Botschafter aus Washington ab. Dann, genau auf dem Höhepunkt einer neuen Zuspitzung in Osteuropa, als Zehntausende russische Soldaten an der Grenze der Ukraine aufmarschierten, unterbreitete Biden Putin seinen überraschenden Vorschlag zum persönlichen Treffen. Als Vergeltung für Moskau zugeschriebene Hackerangriffe wiederum wiesen die USA kurz nach Bidens Gipfelvorschlag zehn russische Diplomaten aus und verhängten Sanktionen. Was Russland mit gleicher Münze heimzahlte.

Dieser Kleinkrieg ließe sich nach einem halbwegs sachlichen Treffen wohl am ehesten beenden. Doch die Einmischung in US-Wahlen, Russlands Schattenkrieg in der Ostukraine, Moskaus völkerrechtswidrige Einverleibung der Krim, Cyberangriffe auf große US-Unternehmen, Moskaus schützende Hand über den Staatsterroristen Lukaschenko, die wachsenden Rivalität beider Mächte in der Arktis, Menschenrechtsfragen, das atomare Wettrüsten oder die Erdgasleitung Nord Stream 2 stellen hohe Hürden dar. Jedenfalls aus US-Sicht. Die Eiszeit wird nach Genf kaum weichen. Zumal die USA - anders als beim Treffen Reagan-Gorbatschow 1985 in Genf, als der Amerikaner sein Gegenüber als Vertreter einer ebenbürtigen Macht begrüßte - heute in Russland einen Staat im Niedergang sehen. Und natürlich: Auch das Killer-Kompliment, mit dem der Amerikaner den Boden für Genf glaubte bereiten zu müssen, wird trotz aller Kühle von Putins Reaktion weiter wirken. So oder so.

Da Biden den Gipfel jedoch erklärtermaßen mit dem Ziel angehen will, »Berechenbarkeit und Stabilität« in den Beziehungen zu Moskau wiederherzustellen, wäre es ein Gewinn, wenn beide Staaten zumindest ihren Dialog aktivierten. Eine Chance liegt zudem darin, dass Washington wie Moskau ihr Interesse an einem neuen Ausgleich auf dem Gebiet der Atomwaffen äußern. Im Februar verlängerten sie bekanntlich das Atomwaffenkontrollabkommen New Start um weitere fünf Jahre. Das aber betrifft jenen Bereich, in dem beide Mächte den Rest der Welt überragen - neun von zehn Nuklearsprengköpfen weltweit sind amerikanische oder russische.

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