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Grüne vermeiden teure Versprechen
Führung der Partei setzt sich bei Debatten in der Sozial- und Umweltpolitik gegen den Nachwuchs durch
Wenn Spitzenleute der Grünen auf Parteitagen Abstimmungsergebnisse erhalten, die unter 80 Prozent liegen, verweisen sie oft stolz auf ihre streitbare Partei. »Sozialistische Ergebnisse gibt es bei uns nicht«, heißt es dann vonseiten der Funktionäre. Diese Zeiten scheinen bei den Grünen vorerst vorbei zu sein. Als am Samstagnachmittag auf dem Berliner Bundesparteitag das Ergebnis für das Spitzenduo im Wahlkampf, Robert Habeck und Annalena Baerbock, verkündet wird, bricht Jubel im Saal aus. 98,5 Prozent Zustimmung der Delegierten - Abweichler gibt es hier in etwa so viele wie beim Nationalen Volkskongress in China.
Zwar werden die beiden Parteichefs eine herausgehobene Rolle im Wahlkampf spielen, aber Annalena Baerbock soll für die Grünen das Kanzleramt erobern. Deswegen geht Habeck von der Bühne. Dort steht Baerbock nun alleine. In ihrer Rede entwirft sie das Bild einer sich wandelnden Wirtschaft und Gesellschaft. »Mein Ziel ist der klimagerechte Wohlstand«, sagt sie. Märkte, Produkte und Dienstleistungen der Zukunft müssten klimaneutral sein. Mit ihrer Vision will die Parteichefin nicht nur das Klima retten, sondern auch deutschen Unternehmen helfen. »Die sozial-ökologische Marktwirtschaft ist die Grundlage für internationale Wettbewerbsfähigkeit«, erklärt Baerbock.
Viele Bürger, die seit Jahren die Grünen wählen, dürfte Baerbock mit diesem Vorhaben auf ihrer Seite haben. Aber wie sieht es mit jenen aus, die Angst vor Veränderungen und dem sozialen Abstieg haben, wie beispielsweise den Beschäftigten in der Kohleindustrie? Die Chefin der Grünen will nichts beschönigen. »Es werden Arbeitsplätze wegfallen«, räumt sie ein. Sie will Sicherheit im Übergang. Dann soll der Staat einspringen. Die Transformation, die den Grünen vorschwebt, soll auch Arbeitsplätze hervorbringen. Baerbock spricht von »bis zu 800 000«, zum Beispiel in der Batterieherstellung.
Die Grünen peilen in ihrem Wahlprogramm einige soziale Wohltaten an. So soll der Mindestlohn schnell auf 12 Euro angehoben werden. Einige Delegierte fordern einen Euro mehr, können sich damit aber nicht gegen die Parteispitze durchsetzen. Das gilt auch für die digital ausgetragene Debatte um die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze. Die Grüne Jugend will, dass den Bedürftigen in jedem Monat 200 Euro zusätzlich überwiesen werden. Doch sie werden von anderen Vertretern des linken Flügels ausgebremst.
Auf dem Bildschirm erscheint der Bundestagsabgeordnete Sven Lehmann. Er hat sich mit dem Vorstand darauf geeinigt, dass der Regelsatz erst einmal um 50 Euro erhöht werden soll. »Wir sollten dieser modifizierten Übernahme zustimmen«, fordert Lehmann. Die Forderung des Parteinachwuchses hält er für zu teuer. »Wir wollen eine ambitionierte, aber realistische Sozialpolitik machen«, so der Bundestagsabgeordnete. Auch die von jüngeren Basismitgliedern geforderte Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen, um bezahlbare Mieten zu sichern, wird von der Mehrheit der Delegierten abgeschmettert.
Bereits vor dem Parteitag hat die Grünen-Führung eine Menge Arbeit gehabt. Es wurden mehr als 3000 Änderungsanträge für das Programm eingereicht. Das liegt auch daran, dass viele Menschen erst kürzlich in die Partei eingetreten sind und nun bei den inhaltlichen Entscheidungen mitreden wollen. Vor der Bundestagswahl 2017 hatten die Grünen noch rund 60 000 Mitglieder, heute sind es fast doppelt so viele. Etwa 100 von ihnen sind auf dem Parteitag unter strengen Hygieneauflagen als Zuschauer zugelassen.
Die Partei hat auch von der Bewegung Fridays for Future profitiert. Doch die Zusammenarbeit von Partei und Aktivisten verläuft nicht immer konfliktfrei. An der Parteitagsdebatte beteiligt sich der Klimaaktivist Jakob Blasel, der für die Grünen in den Bundestag einziehen will. Er wirbt am Freitagabend dafür, den CO2-Preis im kommenden Jahr auf 80 Euro pro Tonne zu erhöhen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Dabei standen die Spitzenleute der Grünen vor dem Parteitag bei Vertretern anderer Parteien in der Kritik, weil sie den Preis bis 2023 um 60 Euro pro Tonne CO2 erhöhen wollen.
Die Gegenrede zum Klimaaktivisten hält Parteichef Robert Habeck. Er will bei aller berechtigten Sorge um den Klimawandel nicht diejenigen vergraulen, die auf ein Auto angewiesen sind und sich über stark steigende Benzinpreise ärgern. »Für die Energiewende müssen gesellschaftliche Mehrheiten organisiert werden«, sagt Habeck. Was Blasel fordere, gehe aus seiner Sicht zu weit. Auch bei diesem Thema erhält der Bundesvorstand die Zustimmung von einer Mehrheit der Delegierten.
Insgesamt sind die Grünen in der Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zumindest anschlussfähig an SPD und Linkspartei. Was von den sozialen Forderungen der Grünen nach der Bundestagswahl übrig bleibt, wird sich zeigen. Eine Koalition mit der Union will in der Partei kaum jemand ausschließen. Die Konservativen werden auf dem Parteitag nicht als Hauptgegner präsentiert, obwohl nach den Umfragen alles darauf hinweist, dass es einen Zweikampf zwischen Baerbock und dem CDU-Vorsitzenden Armin Laschet um das Kanzleramt geben wird.
Vielleicht einigen sich aber nach der Wahl Union und Grüne auf eine Koalition. Grün-Rot-Rot dürfte hingegen Schwierigkeiten haben, in der Außenpolitik auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Im Unterschied zur Linken schließen die Grünen Militäreinsätze der Bundeswehr nicht aus. Möglich ist dabei auch der Einsatz bewaffneter Drohnen.
»Wir wollen mit einer schrecklichen Realität verantwortungsvoll umgehen«, sagt der Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin, der einen Antrag unterstützt, der mit sehr knapper Mehrheit am Sonntag beschlossen wird. Dieser sieht vor, dass die Grünen die Einsätze der Bundeswehr genau prüfen. Unterlegen ist ein Antrag von Trittins Fraktionskollegin Katja Keul, die sagt, dass Drohnen-Befürworter sie nicht überzeugen könnten. »Bei Bombenabwürfen kann man Opfer und Täter nicht unterscheiden.« Deswegen ist Keul grundsätzlich gegen den Einsatz bewaffneter Drohnen.
Voraussetzung für Militäreinsätze ist aus Sicht der Grünen ein UN-Mandat. Das war nicht immer so. Beim völkerrechtswidrigen Nato-Krieg mit deutscher Beteiligung gegen Jugoslawien 1999 fehlte ein solches Mandat. Die Bande der Grünen zu den damaligen Protagonisten sind noch immer eng. Am Sonntag wird Madeleine Albright, die von 1997 bis 2001 US-Außenministerin war, als Gastrednerin zugeschaltet. Sie lobt sich dafür, dass sie mit dem einstigen Grünen-Außenminister Joschka Fischer die »Nato gestärkt« habe. Nun warnt die Demokraten-Politikerin vor China, dem größten geostrategischen Rivalen westlicher Staaten.
Auch Russland und das ebenfalls autoritär regierte Belarus haben die Grünen ins Visier genommen. Am Freitag treffen sich Robert Habeck und Mitglieder der Bundestagsfraktion mit der belarussischen Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja. Auch sie hält eine Gastrede auf dem Parteitag und spricht sich dabei für weitere Sanktionen gegen das von Präsident Alexander Lukaschenko regierte Land aus.
Fischers Erbin. Annalena Baerbock will Kanzlerin werden. Viele ihrer
Positionen erinnern an den früheren Grünen-Außenminister
Die Sanktionen sollten Kali, Stahl und Holzverarbeitung in Belarus treffen. »Lukaschenko hat aus dem Land ein Gefangenenlager gemacht«, sagt Tichanowskaja. Sie berichtet von Folter in den Gefängnissen. In diesem Zusammenhang nennt sie auch den Blogger Roman Protassewitsch, der in einem Flugzeug saß, das von einem belarussischen Kampfjet abgefangen und zum Minsker Nationalflughafen umgeleitet wurde. Dass sich ein Kommandeur des rechtsradikalen Regiments Asow in der Ostukraine, mit dem Protassewitsch einst unterwegs war, positiv über den Blogger geäußert hat, erwähnen weder die Grünen noch Tichanowskaja.
Stattdessen betonen viele Politiker, darunter die Parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann, dass der Auftritt der Frau aus Belarus »der bewegendste Moment« dieses dreitätigen Parteitags war.
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