Störung im Schaufenster von Framatome
Unregelmäßigkeiten in einem Kernreaktor in China könnten für den französischen Mitbetreiber zum ernsten Problem werden
Meldungen aus China schreckten am Montag weltweit Umweltschützer, Wissenschaftler und womöglich auch den einen oder Politiker auf. Im Block 1 des Atomkraftwerks Taishan, das in Südchina rund 130 Kilometer von Hongkong entfernt liegt, sei es zu »Unregelmäßigkeiten« gekommen, hieß es in internationalen Medien. Das AKW wird als Joint Venture vom französischen Energiekonzern EDF beziehungsweise dessen Tochter Framatome sowie dem chinesischen Atomkonzern CGN betrieben.
EDF teilte schriftlich mit, im Reaktor sei ein Anstieg der Konzentration von Edelgasen im Primärkreislauf beobachtet worden. Es handele sich aber um ein bekanntes Phänomen. Tatsächlich entstehen bei der Kernspaltung in Atomreaktoren immer auch radioaktive Edelgase wie Krypton oder Xenon. Nur darf der Gasdruck nicht so stark steigen, dass die Brennstäbe beschädigt werden. EDF zufolge bewegt sich die Erhöhung im Rahmen der in China geltenden Grenzwerte. Westliche Experten haben diese allerdings mehrfach als deutlich zu hoch bezeichnet.
Framatome erklärte gegenüber dem »Spiegel«, es handele sich um ein »Leistungsproblem« in Taishan, bei dessen Lösung man mithelfe. »Nach den vorliegenden Daten arbeitet das Kraftwerk innerhalb der Sicherheitsparameter«, zitiert das Blatt einen Sprecher des Unternehmens. Man arbeite »mit relevanten Experten zusammen, um die Situation zu bewerten und Lösungen für mögliche Probleme vorzuschlagen«.
Dem US-Nachrichtensender CNN zufolge hat Framatome die US-Regierung zwischenzeitlich über eine »bevorstehende radiologische Bedrohung« informiert. Die chinesischen Behörden hätten die zulässigen Strahlungswerte in der Umgebung des Atomkraftwerks erhöht, damit es nicht abgeschaltet werden müsse. »Die Situation stellt eine unmittelbare radiologische Bedrohung für den Standort und die Öffentlichkeit dar, und Framatome bittet dringend um die Erlaubnis, technische Daten und Unterstützung zu übermitteln, die erforderlich sind, um die Anlage wieder in den Normalbetrieb zu bringen«, zitiert CNN aus dem Schreiben der Firma an die US-Behörden. Der Nationale Sicherheitsrat der USA habe sich mit dem Bericht befasst, die Regierung in Washington soll auch mit Peking Kontakt aufgenommen haben.
Aus China selbst kommen Dementis: Bei Überprüfungen in der Anlage wie auch in der Umgebung seien keine erhöhten Radioaktivitätswerte festgestellt worden, hieß es in Staatsmedien. Es werde regelmäßig gemessen. Beide Blöcke des Atomkraftwerks arbeiteten normal. Auch die Internationale Atomenergiebehörde in Wien erklärte, ihr lägen aktuell keine Hinweise auf einen radiologischen Zwischenfall vor.
Der Atomexperte Mycle Schneider, Herausgeber des AKW-kritischen »World Nuclear Industry Status Report«, nannte den aktuellen Informationsstand zu möglichen Problemen in Taishan indes »sehr nebulös«. Dass Framatome selbst vor unmittelbar bevorstehenden Problemen warnt, findet er jedoch bemerkenswert: »Dieser Satz, der Framatome da zugeschrieben wird, lässt zumindest aufhorchen. Es ist sehr ungewöhnlich für diese Firma, mit solch einem Statement nach draußen zu gehen.«
Ungewöhnlich erscheint das Statement erst recht, weil es sich bei den beiden leistungsstarken Kraftwerksblöcken in Taishan gewissermaßen um Schaufensterprojekte von Framatome handelt - nämlich um die weltweit ersten in Betrieb befindlichen Druckwasserreaktoren vom Typ EPR (European Presswater Reactor). Taishan-1 ist seit Dezember 2018 am Netz, Taishan-2 produziert seit September 2019 Strom und Atommüll. Die super-sicheren Reaktoren baut Framatome zurzeit auch in Frankreich, Großbritannien und Finnland. In allen Fällen gibt es aber erhebliche Bauverzögerungen und Kostenexplosionen. Sollten sich die Probleme in Taishan bestätigen oder verstärken, kann Framatome auch in China nicht mehr mit Folgeaufträgen für den EPR rechnen. Das wäre für den Konzern bitter, denn China ist weltweit Spitzenreiter beim Neubau von Atomkraftwerken. Alleine in den vergangenen zehn Jahren sind 37 Reaktoren ans Netz gegangen.
Anfang 2021 liefen 49 Reaktorblöcke, weitere 17 waren im Bau. Gleichwohl liegt der Anteil von Atomkraft im chinesischen Strommix gerade mal bei fünf Prozent. Zum Vergleich: In den USA sind es rund 20 Prozent, und selbst in Deutschland, wo Ende nächsten Jahres die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet werden, wurde vergangenes Jahr immerhin noch zwölf Prozent des Stroms nuklear erzeugt.
Gleichzeitig nimmt der Ausbau der erneuerbaren Energien in China rasant zu. Allerdings sorgen immer noch Kohlekraftwerke für mehr als 60 Prozent des Stroms.
Über die Risiken der Kernkraft wird in den chinesischen Medien und in der Öffentlichkeit kaum gesprochen. Auch die Frage, was mit dem Atommüll passieren soll, wird nicht öffentlich diskutiert. Ein Entsorgungskonzept ist nicht bekannt. Derzeit wird der Atommüll an den Reaktorstandorten zwischengelagert. Angeblich suchen Wissenschaftler aber nach einem möglichen Standort für ein Endlager: in der Wüste Gobi.
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