Die Anden-Variante geht um

In Südamerika naht der Winter, während die Inzidenzzahlen steigen

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 3 Min.

Kaum ging es in Südamerika in Richtung kalte Jahreszeit, zogen die Zahlen der Corona-Infizierten an. Für die Neuinfektionen werden vor allem drei neue und hoch ansteckende Varianten des Virus verantwortlich gemacht. Neben der britischen oder Alpha-Variante sowie der Manaus- oder Gamma-Variante zirkuliert in der Region auch die sogenannte Anden-Variante. Am Mittwoch wurde sie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter der Bezeichnung Lambda-Variante als »Variante von Interesse« eingestuft. Die WHO schätzt die Gamma-Mutation als höchst ansteckende Coronavariante ein, die zudem schlechter vom Immunsystem bekämpft werden könne.

Die Anden-Variante wurde erstmals im August 2020 in Peru entdeckt. Nach Angaben der peruanischen Gesundheitsbehörde wird sie dort inzwischen für über 80 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich gemacht. Schon wenige Monate nach ihrer Entdeckung tauchte sie in Argentinien auf. Von Anfang April bis Mitte Mai wurde sie bereits bei 37 Prozent der Neuinfizierten nachgewiesen. Auch aus Chile wird ihre zunehmende Verbreitung gemeldet.

In Argentinien war die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen von 20 000 im April auf bis zu 40 000 im Mai gestiegen. Seither pendelt sie nur wenig unterhalb der 30 000er-Marke. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der täglich gemeldeten Todesfälle auf rund 600 verdoppelt. Auch wenn die Kurve der Neuinfizierten seit einigen Tagen nach unten zeigt, ist noch keine Entwarnung in Sicht. Allein am Mittwoch wurden 648 registriert. Damit stieg die Gesamtzahl der Todesfälle in Zusammenhang mit der Viruserkrankung auf 87 231.

»Ich ziehe zehn Prozent mehr Arme 100 000 Corona-Toten vor«, hatte Alberto Fernández im April 2020 gesagt. Damals stieß die Aussage des argentinischen Präsidenten auf breite Zustimmung in der Bevölkerung und die Regierung verhängte einen der längsten Lockdowns weltweit. Mit flankierenden Maßnahmen wurde versucht, die finanziellen Verluste vor allem der unteren Einkommensschichten aufzufangen. Zudem wurden den Unternehmen Lohnzuschüsse gewährt. Gut ein Jahr später ist die soziale Akzeptanz vor allem für wirtschaftliche Restriktionen weitgehend verschwunden. Inzwischen sind rund sechs Millionen Argentinier*innen zusätzlich in die Armut abgerutscht und in einigen Tagen wird die traurige Schwelle der 100 000 Corona-Toten überschritten werden. Fernández’ Formel »Gesundheit geht vor Wirtschaft« folgt kaum noch jemand. Viele haben kein regelmäßiges Einkommen. Die Hälfte der Ökonomie ist informell. Die Menschen müssen arbeiten. Trotz der nach wie vor alarmierenden Zahlen hat die Regierung die pandemiebedingten Restriktionen erst vor wenigen Tagen stark gelockert.

Der Präsident hat auch in Sachen Vakzine eine Bringschuld. Im November vergangenen Jahres hatte er verkündet, dass bis Ende Februar 13 der 45 Millionen Argentinier*innen geimpft sein werden und so eine weitere Infektionswelle verhindert werde. Mitte Juni sieht die Realität anders aus. Nur 13,4 Millionen Argentinier*innen wurde bisher eine Dosis verabreicht. Und nur 3,5 Millionen haben beide Dosen erhalten. Der Anteil der Geimpften an der Bevölkerung beträgt knapp 30 Prozent, der doppelt Geimpften 7,7 Prozent.

Dabei hatte die Regierung bis zum Ende des vergangenen Jahres Verträge über die Lieferung von rund 60 Millionen Impfdosen ausgehandelt. Doch von Anfang an gab es Lieferprobleme, vor allem bei Astrazeneca. Der Impfstoff sollte in Argentinien hergestellt, in Mexiko abgefüllt und millionenfach im ersten Quartal des Jahres eingesetzt werden. Tatsächlich aber ist die Auslieferung erst vor gut drei Wochen angelaufen.

Hätte sich die Regierung nicht rasch und erfolgreich um den russischen Impfstoff Sputnik V bemüht, müsste das geplante Impfprogramm um Monate nach hinten verschoben werden. Inzwischen wird auch das russische Vakzin in Argentinien hergestellt. Bei vielen Argentinier*innen ist aber noch immer offen, wann sie die notwendige zweite Dosis erhalten. Erst diese senkt wesentlich das Risiko einer Infektion und schützt vor allem fast sicher vor einem schweren Verlauf der Covid-19-Erkrankung.

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