Konkurrenzkampf in der Lieferblase

Kurierdienste boomen seit der Coronakrise. Kapitalgeber stört es kaum, wenn die Unternehmen keine Gewinne erwirtschaften

  • Moritz Aschemeyer
  • Lesedauer: 5 Min.

In den Innenstadtbezirken deutscher Großstädte konnte man in den vergangenen Monaten ein Déjà-vu erleben. Waren Fahrradlieferdienste eine Zeit lang vor allem am Orange ihrer Jacken und würfelförmigen Transportrucksäcke auszumachen - Kennzeichen des Quasi-Monopolisten Lieferando - hat sich die Farbpalette seither wieder verbreitert. Unternehmen wie Wolt, die Fahrdiensttochter Uber Eats und demnächst auch Foodpanda - ein Dienst des Dax-Konzerns Delivery Hero - gehen mit Lieferando um die Restaurantbestellungen ins Rennen. Lieferando und Foodpanda wollen sich zudem bald die ultraschnelle Lieferung von unverarbeiteten Lebensmitteln mit Unternehmen wie Flink und Gorillas streitig machen. Deren Konkurrenzkampf ähnelt dem zu Beginn des Kurierdienstbooms um das Jahr 2015 herum. Damals waren es Lieferdienste für Pizza, Burger, Bibimbap, Sushi und Co, die hart um Kunden, Marktanteile und die entstehenden Netzwerkeffekte konkurrierten.

Neu ist die Idee von Gorillas keineswegs: In den USA und in der Türkei gibt es mit GoPuff und Getir - das seit kurzem auch in Deutschland agiert - schon seit längerer Zeit Vorbilder in Sachen dezentraler Warenlager, Bestellung per Smartphone-App und Lieferung durch Kurierfahrer*innen. »Q-Commerce« heißt dieses Geschäftsmodell - kurz für Quick Commerce, eine Unterform des E-Commerce, welcher vor allem mit dem Namen Amazon in Verbindung gebracht wird.

Weitere Proteste von Lieferfahrern

Nachdem in der vergangenen Woche Gorillas-Lieferfahrer*innen in Berlin in einen wilden Streik getreten waren, wollen sich nun auch Fahrer*innen von Domino-Pizza in Leipzig gegen den Rauswurf eines Kollegen wehren. Die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen Union (FAU) Leipzig unterstützt die Fahrer*innen und ruft für den 19. Juni zu einer solidarischen Fahrraddemo auf. Der FAU zufolge hatte sich der betroffene Fahrer für bessere Arbeitsbedingungen engagiert. Wie auch seine Kolleg*innen einer Domino-Filiale habe er seine Unterschrift auf einen Brief mit der Forderung gesetzt, Corona-Schnelltests am Arbeitsplatz anzubieten. Bis dahin hatten die Mitarbeiter*innen mehrfach mündlich um Tests gebeten, die aber nicht gewährt wurden.

Dem Fahrer wurde demnach einen Tag nach Einreichen der Unterschriftenliste »aus betrieblichen Gründen« gekündigt. Einen Zusammenhang gebe es nicht, sagte die Firma ihm. Die FAU sieht das anders.

Auch bei Gorillas in Berlin war die Kündigung eines Fahrers Grund für den Protest. Der Fahrer war noch in seiner Probezeit, die sechs Monate dauert - bei einem auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag. In mehreren Lagerhäusern des Lieferdienstes unverarbeiteter Waren legten in den Tagen darauf Dutzende Beschäftigte die Arbeit nieder und blockierten vorübergehend mehrere Standorte. Sie forderten, den Fahrer wieder einzustellen und die Probezeit zu verkürzen. Weltweit gab es Solidaritätsbekundungen. jot

Mit dem Branchenriesen teilt man nicht nur den Angriff auf den stationären Einzelhandel in Form von Geschäften, Supermärkten oder Kiosken. All diese Plattformunternehmen verbindet zudem die Idee, den Konsum effizienter zu gestalten und dadurch »auch noch die letzten Nachfragereservoirs ausschöpfen, die etwa aufgrund zeitlicher Engpässe bei den Konsumenten noch nicht erschlossen sind«, wie es der Soziologe Philip Staab in seinem Buch »Falsche Versprechen« beschreibt. Bei den Lieferdiensten ist dies offenkundig. Statt in der Coronapandemie Zeit mit dem Anstehen vor dem Supermarkt zu verbringen, lässt man sich Sekt und Avocado noch spätabends in Minutenschnelle bequem an die Wohnungstür liefern.

Der digitale Kapitalismus reagiert damit auf ein grundsätzliches Dilemma: Der Konsum hält nicht mit der Produktivität schritt. Global gehen die Wachstumsraten zurück, die Märkte für Standardgüter wie Kühlschränke, Fernseher und Smartphones sind dort, wo genügend Kaufkraft besteht, weitgehend gesättigt. Die enge Kopplung von Massenproduktion und Massenkonsum als bestimmende Elemente des Fordismus ist lange passé, die darauffolgende Ankurbelung des Konsums durch Globalisierung und Verschuldung reicht längst nicht mehr aus, um die Masse an überschüssigem Kapital zu verwerten.

Das Kapital konzentriert sich aufgrund der Absatzschwierigkeiten zunehmend in der Digitalökonomie - wie eben auch im Bereich der Transport- und Liefer-Start-ups zu sehen ist. Egal ob Fernbusse, E-Scooter oder eben Lieferdienste, stets lässt sich ein neuer Hype kreieren, auf den Risikokapitalgeber*innen aufspringen können. In der
Coronakrise scheinen Lieferdienste attraktive Anlagemöglichkeiten zu bieten. So hieß es kürzlich seitens Delivery Hero, das sein Deutschlandgeschäft 2019 an Lieferando verkauft hatte, die Deutschen seien nun bereit, für Lieferdienste zu bezahlen.

Der Bringdienst Flink konnte kürzlich 240 Millionen Dollar Kapital einwerben, der Konkurrent Gorillas wurde nach der letzten Investorenrunde mit über einer Milliarde Dollar bewertet. Riesige Summen werden in die Expansion, teure Lagermieten sowie aggressive Marketingkampagnen gesteckt, um etwa ein paar Minuten Zeitgewinn als
einzigartige Innovation eines ansonsten mit dem der Konkurrenz nahezu identischen Produktes zu bewerben. Dass die Unternehmen dabei keine Gewinne erwirtschaften - Gorillas etwa soll dem »Managermagazin« zufolge in internen Dokumenten den Verlust pro Lieferung mit etwa 1,50 Euro beziffert haben - stört die Kapitalgeber*innen wohl kaum. Schließlich winkt der gewinnträchtige Ausstieg aus überbewerteten Unternehmen, der »Exit« muss nur erfolgen, bevor die Blase platzt.

An anderer Stelle werden Kosten, die beim Kampf ums Monopol anfallen, minimiert oder ausgelagert. Bei Lieferdiensten und Leihrollern wird der öffentliche Raum für privatwirtschaftliche Interessen zweckentfremdet. Ersteren droht nun immerhin ein Bußgeld, weil sie öffentliche Gehwege als »Logistikzentrum« nutzen.

Da sich innenstädtische Bringdienste zudem bisher als automatisierungsresistent und somit wenig produktiv erwiesen haben, bleiben als Kostenstellschrauben im aufgeheizten Konkurrenzkampf vor allem die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Lohnkosten fallen insbesondere bei kleinen Bestellungen stark ins Gewicht, Preise lassen sich ohne Marktkontrolle nur schwerlich anheben. Die Löhne derer, die
gegen die Verluste anfahren sollen, liegen knapp über Mindestlohnniveau,
permanenter Zeitdruck gehört zum Arbeitsalltag. Es ist kaum verwunderlich, dass vornehmlich Migrant*innen mit geringeren Kenntnissen des hiesigen Arbeitsrechts und schlechtem Arbeitsmarktzugang in diesen Bereichen arbeiten.

Doch an dieser Stelle stößt das Modell an seine Grenzen. Vergangene Arbeitskämpfe haben zumindest die Scheinselbstständigkeit bei Fahrradkurieren weitgehend verschwinden lassen. Aktuell organisieren sich Angestellte von Gorillas in Berlin, um vermittels betrieblicher Mitbestimmung und öffentlicher Skandalisierung von Missständen den Unternehmen gewisse Mindeststandards abzuringen. Sollten die Arbeitskämpfe erfolgreich sein, könnte dadurch die Arbeitsorganisation der gesamten Branche infrage gestellt werden.

Zudem bleibt fraglich, ob bei einer erfolgreichen Durchsetzung digitaler Vertriebsmodelle tatsächlich auf längere Sicht zusätzliche Nachfrage erschlossen wird, oder nicht viel eher ein Absatzmarkt zuungunsten des stationären Handels neustrukturiert wird. Schließlich konkurriert man hier mit bereits etablierten Playern um einen Alltagskonsum, der auch sonst stattfindet. Der Konkurrenzkampf in der Lieferblase wird dessen ungeachtet vorerst weitergehen, die nächsten Finanzierungsrunden stehen schon ins Haus.

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