Die Dauerunterschätzten

Nach dem Halbfinaleinzug 2016 überrascht Wales erneut mit dem Erreichen der K.-o.-Phase

  • Elisabeth Schlammerl, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Robert Page schien nicht mehr viel vor zu haben an diesem Abend. Jedenfalls machte es sich der Trainer von Wales am Sonntagabend gemütlich auf dem Plastikstuhl vor dem Mikrofon. Während sich sein Kollege Roberto Mancini zuvor wie immer sehr kurz gehalten hatte und nach ein paar belanglosen Sätzen in die römische Nacht verschwunden war, zeigte sich Page in Plauderlaune. Tatsächlich haben er und seine Mannschaft es gerade nicht sehr eilig. Sie müssen zwar die Koffer packen, aber es geht trotz der 0:1-Niederlage in der letzten Vorrundenpartie gegen Italien am Sonntag nicht heim auf die Insel, sondern erst einmal nach Amsterdam. Dort spielen sie am kommenden Samstag gegen den Zweiten der Gruppe B. Und Page gab dem nächsten Gegner schon mal zu verstehen: »Unterschätzen sie den Charakter der Waliser nicht.«

Den hatten einige Mannschaften und die Fußballfans bereits 2016 kennengelernt, als Wales überraschend bis ins Halbfinale vorgestoßen war und auf dem Weg dorthin unter anderem Belgien bezwungen hatte, das damals bereits als Geheimfavorit galt. In der Runde der letzten Vier scheiterte die Waliser Mannschaft dann am späteren Europameister Portugal. Nun haben sie sich erneut gegen höher eingeschätzte Gegner durchgesetzt, erreichten als Gruppenzweiter noch vor der Schweiz und der Türkei das Achtelfinale - nur hinter Italien, das EM-Geschichte schrieb: Drei Vorrundensiege und dabei kein Gegentor zu kassieren, das war zuvor noch keiner Mannschaft bei der Kontinentalmeisterschaft gelungen.

Die Schweizer zittern noch

Die Schweiz hat mit einem Erfolg in ihrem letzten Vorrundenspiel die Chance aufs Erreichen des Achtelfinals gewahrt. Die Mannschaft von Trainer Vladimir Petkovic gewann in Baku mit 3:1 (2:0) gegen die Türkei, muss nun aber auf Schützenhilfe hoffen, um als einer der vier besten Gruppendritten weiterzukommen.

Das Aus der Türkei ohne Punktgewinn ist hingegen schon besiegelt. Haris Seferovic (6. Minute) und Xherdan Shaqiri (26./68.) trafen zum ersten Sieg der Eidgenossen im laufenden Turnier. Für die Türkei erzielte Irfan Can Kahveci (62.) lediglich den zwischenzeitlichen Anschlusstreffer.

Die Schweizer müssen nun noch mindestens zwei Dritte aus den anderen fünf Gruppen hinter sich lassen. Ihre vier Punkte können die derzeit Drittplatzierten allerdings noch in jeder Staffel erreichen. nd/SID

Wales hat mit Ausnahme von Gareth Bale keinen Ausnahmekönner, ihr Stil mag auch nicht den allermodernsten Ansprüchen an System und Taktik entsprechen, aber die Mannschaft hat etwas, das eben mindestens genauso wichtig ist im Fußball: Einen enormen Kampfgeist. Und einen Trainer, der sich etwas traut und manchmal auch unkonventionelle Entscheidungen trifft.

Als am Sonntag Verteidiger Ethan Ampadu in der 56. Minute die Rote Karte sah, erwarteten die meisten Beobachter, dass Page einen zusätzlichen Defensivspieler einwechseln würde, um gegen die angriffslustigen Italiener zu mauern. Zumal es bereits 0:1 stand, und die Schweiz, der Konkurrent um Platz zwei in der Gruppe A, selbst führte. Der Vorsprung der Waliser betrug nur noch zwei Tore.

Aber der 46-jährige Page wechselte mit Kieffer Moore einen Stürmer ein. »Ich bin meinem Herzen gefolgt«, sagte Page. Er wollte mit dem Torschützen des ersten walisischen Treffers bei dieser EM - es war der Ausgleich im Auftaktspiel gegen die Schweiz - ein Signal setzen. Für seine Mannschaft, für den Gegner. Denn hätte er noch einen Verteidiger gebracht, wäre das eigene Angriffsspiel vollkommen erlahmt, zumal Bale gut abgeschirmt wurde und deshalb kaum Akzente setzen konnte. »Wir hätten am Rand unseres Strafraums gezeltet«, sagte Page.

Ein Risiko, gibt er zu, sei es dennoch gewesen. Weniger wegen des nun fehlenden Abwehrspielers, so Page, sondern weil Moore »gerne mal aus Versehen eine Verwarnung bekommt«. Und weil der Angreifer von Cardiff City bereits eine Gelbe Karte im Turnier gesehen hatte, wäre er bei der nächsten für das Achtelfinale gesperrt gewesen. Das war auch der Grund gewesen, warum Page ihn und zwei weitere vorbelastete Spieler zunächst auf der Bank gelassen hatte. Der Trainer gab Moore bei dessen Einwechslung deshalb mit auf den Weg, beim Hochspringen darauf zu achten, die Hände unten zu lassen, um ein - unbeabsichtigtes - Handspiel zu vermeiden. »Er verstand meine Sorge.« Und trotzdem sei Page jedes Mal »hysterisch« geworden, wenn Moore zum Kopfballduell ansetzte, gab Page zu.

Sein Plan, mit dem zusätzlichen Stürmer für mehr Entlastung nach vorne zu sorgen, ging nicht ganz auf, aber auch bei Italien fehlten aufgrund vieler Umstellungen die Präzision in Spielaufbau und Abschluss, um noch weitere Tore zu erzielen. Am Ende stand kein Spieler mehr auf dem Platz, der in den ersten beiden Partien noch zur Startelf Italiens gezählt hatte. Dass es beim 0:1 blieb und Wales damit eine Runde weiterkam, dafür machte der Trainer dann aber doch lieber die Tugenden seiner eigenen Spieler verantwortlich anstatt sich auf die Unzulänglichkeiten der anderen zu konzentrieren. »Mein Team«, sagte Page, »ist phänomenal. Ich platze vor Stolz.«

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