Wenn die Bäume Punkte tragen
Polka Dots statt Psychoanalyse: Der Martin-Gropius-Bau in Berlin feiert die heitere, aber doppelbödige Geschlechterkunst von der großen Yayoi Kusama
Nach hinten ist auf Bildern immer Platz. Spätestens seit die Renaissance das neue Genre der Landschaftsmalerei aus der Taufe hob. Über Berge, Wälder und Flusstäler schwebte da der Betrachterblick, bis er sich irgendwo im grenzenlosen Fernblau des Horizonts verlor. Verlieren kann man sich auch in den bestrickenden Raumkunstwerken von Yayoi Kusama, wenngleich das Auge darin weder über Land noch über Wasser fliegt. Artifizielle Gärten aus rapsgelben Kürbissen und elektrisch pulsierende Firmamente sind es, die sich vor dem Besucher des Martin-Gropius-Baus in Berlin auftun. Und damit entwickeln die schrillschönen Installationen der Japanerin eine vielleicht umso eindringlichere Vorstellung von Unendlichkeit.
Bereits in den 60er Jahren wurde Yayoi Kusama mit ihren Spiegelkabinetten zur Pionierin der Immersionskunst, also des Eintauchens in fantastische Welten, was heute meist digital geschieht. Der Tochter eines Gärtnereibesitzers standen indes nur die analogen Mittel von Malerei, Textil- und Objektkunst zur Verfügung. 1929 geboren, wird Kusama im Japan der Nachkriegszeit zunächst traditionell ausgebildet, bis sie aus dem konservativen Korsett ausbricht und in die USA geht. Nach anfänglichen Erfolgen in New York, wo sie gemeinsam mit Andy Warhol ausstellte, erkrankte Kusama an einer Depression, kehrte nach Tokio zurück und geriet vorübergehend in Vergessenheit, um erst Ende der 80er Jahre wiederentdeckt zu werden.
Nun gilt die 92-Jährige, die seit viereinhalb Jahrzehnten freiwillig in einer psychiatrischen Einrichtung lebt, als Grande Dame der japanischen Gegenwartskunst. Museen von London bis New York feiern ihre Werke, die auf dem Kunstmarkt für Millionensummen die Besitzer wechseln. Kaum zu glauben, dass die Ausstellung im Rahmen der Berliner Festspiele Kusamas erste umfassende Retrospektive in Deutschland ist!
Acht Ausstellungen aus früheren Werkphasen hat Hausherrin und Kuratorin Stephanie Rosenthal für die Parade im Gropius-Bau rekonzipiert. Das veranschaulicht, wie beharrlich Kusamas Arbeit von Beginn an gewesen ist. Trotz der stilistischen Häutungen. Serielle Strukturen, biomorphe Wucherungen oder dicht an dicht gesetzte Kreise bestimmen schon die frühen Gemälde. Wimmelndes All-over, ein Drängen über den Bildrand hinaus.
Schließlich quetscht die Künstlerin ein altes Boot voll mit wattierten Phallusformen und vervielfältigt den provokanten Kahn fotografisch, um damit einen ganzen Raum auszukleiden. Der erste Schritt in die dritte Dimension ist getan. Bald darauf entstehen die sogenannten Infinity Mirror Rooms. Abgetrennte Erlebnisboxen, deren geschickt inszenierte Spiegelungen atmende Weite suggerieren. Ob organisch verwunschen oder elektronisch leuchtend - im 360-Grad-Winkel umspülen die Sinneseindrücke den Betrachter. »Die vollkommene Vereinigung von Körper und Kunstwerk«, wie Rosenthal sagt. Weil diese Kunst immer schon in Kategorien der virtuellen Realität gedacht hat, funktioniert die Berliner Schau nicht zuletzt beim coronasicheren Online-Besuch am Computer hervorragend.
Ihre psychedelischen Topografien nutzt die Künstlerin auch für mutige Selbstinszenierungen. Im feuerroten Catsuit posiert sie etwa in der Unendlichkeitskammer »Phalli’s Field« (1965). Allein mit ihren Spiegelbildern auf einem Acker aus Stoffpenissen: das wohl deutlichste Statement der Künstlerin zu ihrer Position im männlich dominierten Kunstbetrieb. Pop-Art-Kollegen entwickeln Kusamas Gedanken weiter. Warhol übernimmt die Idee mit der Fototapete, Claes Oldenburg wird von den Knautschpimmeln zu elastischen Soft Sculptures inspiriert. Kusamas eigene Karriere dagegen stockt. Ging Sammlern und Galeristen die offensive Genderthematik doch zu weit?
Die obsessive Auseinandersetzung mit dem männlichen Genital rückt Kusama in die Nähe einer Louise Bourgeois, der die Anerkennung ebenfalls lange verwehrt blieb. Wie bei der Frankoamerikanerin liegt auch über Kusamas Geschlechterkunst der lange Schatten traumatischer Kindheitserinnerungen. Als Mädchen wurde sie von der Mutter genötigt, den dauergeilen Vater bei seinen außerehelichen Affären zu beobachten, weswegen Kusama später an einer Sex-Phobie litt. Vor diesem Hintergrund sind die grotesken Vervielfältigungen des männlichen Genitals auch eine Konfrontationstherapie mit den Monstern des eigenen Ichs.
Im Gegensatz zu den radikalfeministischen Kastrationsdramen von Bourgeois aber bleibt Kusama eine heitere Gestalterin und Spielerin. Befreiung sucht sie über die Form, nicht über ins Bild gesetzte Psychoanalyse. Besonders gilt das für jenes Motiv, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist: Punktmuster, im Textildesign Polka Dots genannt. Leinwände betüpfelt sie damit ebenso wie Objekte oder sich selbst. Sogar die Bäume draußen vor dem Gropius-Bau tragen rot-weiße Stoffhüllen, die aussehen wie das Kleidchen von Minnie Maus, während sich drinnen im Lichthof gigantische Oktopus-Tentakel Richtung Decke strecken.
Zu großer Kunst wird all das, indem es dekorative Gefälligkeit zwar geschickt einsetzt, sich aber nicht darin erschöpft. Kusamas poppige Hingucker haben stets doppelten Boden. Die schwarz-gelb gemusterten Kürbisse und die kolossalen Tintenfischarme - könnten sie nicht auch Ergebnis einer unheimlichen Genmutation sein? Das Heer von grobwulstigen Fingern wiederum, das über einen Esstisch herfällt, verbindet den karnevalistischen Exzess mit dem Schmerzgedächtnis einer erlittenen Gewalt. Auch die Schwindelgefühle, die einen in der schwirrend und flirrend getüpfelten Unendlichkeit erfassen, führen aufs Glatteis der Ambivalenz. Himmel und Hölle liegen in diesen Weltenlandschaften nah beieinander. Insofern ist das Kritikerurteil klar: 100, ach was, 100 000 Punkte für Yayoi Kusama!
»Yayoi Kusama. Eine Retrospektive«, bis 15. August im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin. Montag, Mittwoch bis Sonntag 9 bis 21 Uhr, Dienstag geschlossen.
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