Wahlkampf: Thema verfehlt

Die CDU/CSU hat sich durchgerungen, ein Wahlprogramm zu schreiben oder hat jedenfalls ein altes recycelt, meint Sheila Mysorekar

Was bei den meisten Parteien im Wahlkampf auffällt: Die Wahlversprechen sind für ältere Leute gedacht. Ziemlich alte Leute. Sogar sehr Alte. Die Parteien gehen anscheinend davon aus, dass alle ihre Wähler*innen im Jahr 2035 bereits tot sind. Denn sonst wäre der Kampf gegen den Klimawandel ganz oben auf der Agenda. In 14 Jahren wird die Welt - also auch Deutschland - möglicherweise ganz anders aussehen als heute. Dann nämlich könnte die Erderhitzung zwei Grad Celsius erreicht haben. Das heißt konkret, weltweit würde es massive Ernteausfälle und Hungersnöte geben.

Ich gehe davon aus, dass ich in 14 Jahren noch lebe, statistisch gesehen. Neuerdings habe ich sogar einen Fahrradhelm; da werden mir bestimmt noch ein paar Jahre draufaddiert. Ich habe aber keine große Lust, in absehbarer Zeit unter Hunger zu leiden und zusammen mit Hunderttausenden anderen Deutschen irgendwohin fliehen zu müssen, wo es noch Nahrung gibt - keine Ahnung wohin, nach Finnland? Oder in die andere Richtung? Marokko? Armenien? Nein, ich würde lieber in Köln wohnen bleiben, und zwar mit einem Rheinpegel, der die Stadt nicht überschwemmt. Und das ist noch das bessere Szenario. Die schlechtere Aussicht, bei einer Erderhitzung von drei Grad Celsius bis 2055, bedeutet Massensterben. Wir werden das bittere Ende am eigenen Leib miterleben.

Sheila Mysorekar
Sheila Mysorekar ist Journalistin und war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Heute ist sie Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem bundesweiten Netzwerk aus rund 170 postmigrantischen Organisationen. Für „nd“ schreibt sie die monatliche Medienkolumne „Schwarz auf Weiß“.

Abgesehen von den Grünen krähen die meisten Parteien jedoch ein sorgloses »Weiter so, nur jetzt mit Elektromotor!« In ihren Programmen finden sich nur kosmetische Pläne zum Klima. Die FDP setzt Hoffnung auf irgendwelche noch nicht erfundene Technologien, die uns dann wundersamerweise in letzter Minute retten werden. Ich glaube, der psychologische Fachausdruck dafür lautet »magisches Denken«.

Das alles ist nichts anderes als eine gigantische Verleugnung der Realität. Warum eigentlich? Wohnen Politiker*innen auf dem Mars? Haben sie keine Kinder, deren Überleben ihnen am Herzen liegt? Wieso steckt fast das gesamte politische Personal dieses Landes den Kopf in den Sand? Nämlich in den Sand der Wüste, in die sich die Brandenburgs Felder bald verwandeln.

Und an einem zweiten Punkt sind die Parteiprogramme eher auf alte Leute zugeschnitten: Migrantisierte Menschen kommen darin kaum vor, jedenfalls nicht als wichtige Wählergruppe und erst recht nicht als diejenigen, die unsere Zukunft maßgeblich gestalten werden. In keiner Partei sind sie im Führungspersonal adäquat repräsentiert. Auch nicht bei den Grünen/Bündnis 90, wo es schon lange Frauenquoten gibt.

26 Prozent aller Menschen hierzulande kommen aus einer internationalen Familie. Von den Menschen unter 25 Jahren sind es 34 Prozent . Mittelfristig wird sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen: Laut Statistischem Bundesamt (2019) hatten 40 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund. Allerspätestens in 16 Jahren, also in vier Legislaturperioden, haben dann 40 Prozent aller Menschen in diesem Land - ich wiederhole: aller Menschen! - eine migrantische Geschichte.

Aber Vielfalt ist auch eine soziale Frage. Kinder aus migrantischen Familien sind deutlich häufiger von Armut betroffen: Mehr als die Hälfte der unter sechsjährigen Kinder der ersten Migrationsgeneration ist von Armut gefährdet im Vergleich zu 15 Prozent der unter Sechsjährigen ohne Migrationshintergrund, nach Zahlen des Deutschen Jugendinstituts. Wenn die Politik nicht gegensteuert, werden wir zunehmend eine kleine weiße Oberschicht und eine große verarmte migrantische Unterschicht haben. Interessiert das jemanden? Anscheinend nicht. In der Linkspartei wird die soziale Frage teils gegen die Debatte um Rassismus gestellt; dabei hängt beides unmittelbar zusammen.

Keine Partei ist auf diese gesellschaftlichen Herausforderungen vorbereitet. Aber wir brauchen jetzt eine Regierung, die als höchste Priorität den Klimawandel bekämpft und gezielt steuert, um eine friedliche, vielfältige, antirassistische Gesellschaft aufzubauen, mit gleichen Chancen für alle. Es geht um den sozialen Frieden. Und um unser Überleben.

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