Humanitäre Korridore nach Idlib nutzen auch den Islamisten

Westliche Mitglieder des UN-Sicherheitsrats wollen Zugang weiter erhalten, Russland sieht darin eine Verletzung der syrischen Souveränität

  • Karin Leukefeld, Damaskus
  • Lesedauer: 4 Min.

Im UN-Sicherheitsrat (UNSR) wurde am vergangenen Mittwoch erneut über die humanitäre Lage in Syrien gesprochen. Nach zehn Jahren Krieg sind die Debatten monatliche Routine geworden. Hinter dem Streit über »humanitäre Korridore« stehen geostrategische Interessen der P5, der Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat. Zankapfel ist die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens.

UN-Generalsekretär Antonio Guterres appellierte am Mittwoch an die Mitglieder im UN-Sicherheitsrat und forderte, die Hilfslieferungen durch humanitäre Korridore aus der Türkei nach Idlib fortzusetzen. Der »lebensnotwendige Unterstützungskanal« müsse für ein weiteres Jahr fortgesetzt werden, sagte Guterres, der per Videolink aus Brüssel zugeschaltet war, wo er am EU-Gipfeltreffen teilnimmt. Andernfalls seien die Konsequenzen »vernichtend«. Guterres sprach sich auch für »frontlinienüberschreitende Hilfsoperationen« in Idlib aus. »Wir sprechen mit der Türkei und mit Gruppen, die das Gebiet kontrollieren, und ich habe große Hoffnungen, dass es möglich sein wird, bald mit frontlinienüberschreitenden Operationen zu beginnen«, so Guterres. Man müsse aber »anerkennen, dass diese niemals das Niveau der derzeitigen grenzüberschreitenden Hilfe erreichen können«.

Die westlichen Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat - USA, Großbritannien, Frankreich - und deren Partner wollen die »humanitären Korridore« erhalten und ausweiten. Russland will ein Ende der Ausnahmeregelung. Hilfe sei notwendig, solle aber innerhalb Syriens und über die Frontlinien hinweg verteilt werden. Die Resolution verletze die Souveränität Syriens und verhindere eine politische Lösung. Die gegenwärtige UN-Resolution läuft am 10. Juli aus, Russland könnte sein Veto gegen eine Verlängerung einlegen.

Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) erreichen aktuell monatlich mindestens 1000 Lastwagen mit Nahrungsmitteln, Medikamenten »und anderen Dingen« die Provinz Idlib. Sie passieren den Grenzübergang Bab Al-Hawa, der auf der einen Seite von der Türkei und auf der anderen Seite von Hayat Tahrir Al-Scham (HTS) kontrolliert wird. Die Organisation, früher bekannt als Al-Nusra-Front, eine Abspaltung des Islamischen Staats im Irak und in der Levante (ISIS) und syrischer Al-Qaida-Ableger, bietet sich dem Westen als »Partner gegen Assad« an.

Führer von HTS und den Vorläuferorganisationen ist seit Beginn des Krieges der in Saudi-Arabien geborene Syrer Abu Mohammad Al-Jolani. 2003 schloss er sich Al-Qaida im Irak (AQI) an, wurde von der US-Armee gefangen genommen und im Kriegsgefangenenlager Bucca Camp in Basra inhaftiert. Gemeinsam mit Abu Bakr Al-Baghdadi erweiterte Al-Jolani nach seiner Freilassung 2008 den Islamischen Staat im Irak (ISI) zum Islamischen Staat im Irak und in der Levante (ISIL) und griff in den Syrienkrieg ein. Al-Jolani ist ein international gelisteter islamistischer Terrorist; die USA haben für seine Ergreifung eine Belohnung von zehn Millionen US-Dollar ausgeschrieben.

Im Februar 2021 wurde Al-Jolani ausführlich vom US-Fernsehsender PBS und dessen Frontline-Journalist Martin Smith interviewt. »Der Dschihadist« - so der Titel des Filmes dazu - trat in Anzug und weißem Hemd vor die Kamera und erklärte, er wolle mit dem Westen Beziehungen aufnehmen. Den USA bot er an, seinen Kampfverband HTS in den Dienst der westlichen Allianz zu stellen, um gegen Assad und dessen Verbündete Russland und Iran zu kämpfen.

Al-Jolani hat nach eigenen Angaben 10 000 Mann unter Waffen. Die von HTS installierte »Erlösungsregierung« zwangsrekrutiert mittlerweile massiv junge Männer aus der Provinz. Al-Jolani wird von der Türkei unterstützt und half dabei, syrische Kämpfer gegen Bezahlung über die Türkei in den Krieg nach Libyen zu transferieren.

Wo Dschihadisten den Richter spielen - Nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung schufen die Rebellengruppen eigene Strukturen

Die humanitären Korridore nach Idlib nutzen direkt HTS und festigen die Macht von Al-Jolani in der Provinz. HTS kassiert Zollgebühren von den Lastwagen, die über Bab Al-Hawa nach Idlib fahren. Die Hilfsgüter stellen für die Bevölkerung eine Basisversorgung sicher, um HTS und ihre Unterstützer sich nicht kümmern müssen. Gleichzeitig profitieren die Familien und Unterstützer von HTS-Kämpfern und -Funktionären ebenfalls von der Hilfe. Neu entstandene Firmen in der Computer-, Telefon-, Strom- oder Wasserversorgungsbranche unter HTS-Kontrolle profitieren von der Sach- und finanziellen Wiederaufbauhilfe, die unter anderem über den Syrischen Wiederaufbaufonds (SRTF) auch nach Idlib gelangt. Verwaltet wird das Geld von der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), verteilt wird es gemäß vertraglicher Vereinbarungen mit der Nationalen Koalition der revolutionären und oppositionellen Kräfte Syriens (Etilaf) mit Sitz in Istanbul.

Obwohl HTS und ihr Anführer Al-Jolani international als terroristisch gelistet sind, bestehen zwischen ihnen und der Türkei, Etilaf und den westlichen Staaten wie USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Saudi Arabien, Jordanien und anderen Staaten bereits enge Beziehungen.

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