Bürgermilizen bekämpfen die Taliban

Viele Afghanen befürchten, dass das islamistische Schreckensregime zurückkehren könnte

  • Emran Feroz, Kabul
  • Lesedauer: 5 Min.

»Unsere Gegend wird nun von den Taliban kontrolliert. Sie haben die Checkpoints innerhalb kürzester Zeit überrannt«, erzählt Mohammad Farzad, der in der Provinz Baghlan im Norden Afghanistans lebt - inzwischen wieder mitten im Taliban-Gebiet. Während die USA und ihre Verbündeten ihren Abzug planen, versinkt Afghanistan im Chaos. Seit Mai konnten die Taliban 50 Distrikte erobern. Doch wer meint, dass die verbliebenen 220 Distrikte von der afghanischen Regierung kontrolliert werden, liegt falsch. Die meisten dieser Regionen gelten seit Jahren als »contested areas« (umkämpfte Gebiete) und könnten jederzeit von den Extremisten überrannt werden.

Es ist vor allem der Norden des Landes, wo die Bundeswehr (noch) stationiert ist, der den Taliban mehr und mehr in die Hände fällt. Nach den Eroberungszügen wird erbeutetes Kriegsmaterial, etwa Dutzende von Humvees (Geländefahrzeug der US-Armee) und zahlreiche Waffen, zur Schau gestellt, während die Medienmänner der Gruppierung Soldaten »interviewen«, die sich ergeben haben. In den letzten Jahren konnten sich die Taliban erfolgreich in den Distrikten rund um große Provinzhauptstädte festsetzen. Dies betrifft etwa Balch und Kundus, dessen gleichnamige Provinzhauptstadt bereits im Jahr 2015 kurzzeitig fiel. Die damaligen Gründe unterscheiden sich kaum von den heutigen: Sowohl die Provinzregierungen als auch die Sicherheitskräfte gelten als unorganisiert und korrupt, führende Milizionäre haben frühzeitig die Flucht ergriffen. »Der einfache und meist unterbezahlte Soldat fragt sich, warum er für solche Führer sein Leben riskieren sollte«, meint Farzad aus Baghlan.

Zeitgleich bilden sich Bürgermilizen, die den Soldaten zur Seite stehen wollen. Mittlerweile soll es bereits einige Tausend von ihnen geben, die dem Taliban-Vormarsch trotzen wollen. »Wir stehen bereit und ergeben uns nicht«, sagt ein junger Mann in einem Bericht, der vom staatlichen Nachrichtensender RTA verbreitet wurde. Ob die Milizen, die meist von lokalen Warlords oder dem afghanischen Geheimdienst NDS unterstützt werden, eine realistische Chance gegen die Taliban haben, ist unklar. Beobachter sehen eine zusätzliche Eskalation des Krieges. Auch in der Hauptstadt könnte sich die Situation ändern, spätestens nach dem Abzug der verbliebenen 3500 US-Soldaten, der im Juli abgeschlossen werden soll.

Der Buchhändler Hadschi Scherazuddin, der nahe des Großen Basars arbeitet, hegt keine Sympathien für die Taliban. Den geplanten Abzug der US-Truppen unterstützt er allerdings. »Sie haben hier nichts verloren. Es ist gut, dass sie abziehen«, meint er. Scherazuddin hat in den letzten drei Jahrzehnten den Fall verschiedenster Regime erlebt. Dass nun womöglich auch die Kabuler Regierung von Präsident Aschraf Ghani ihr Ende findet, während seine Verbündeten abziehen, wundert ihn nicht. Dabei denken viele Afghanen, dass der Konflikt in ihrem Land nicht nur durch ausländische Militärtruppen gelöst werden kann. »Wir können uns nicht ewig auf sie verlassen«, meint der Soldat Tamim, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Dass die afghanischen Sicherheitskräfte den Taliban auf Dauer trotzen können, sieht er dennoch skeptisch. »Uns fehlen viele Ressourcen. Die Taliban wissen das und nutzen das schamlos aus«, meint er.

Währenddessen scheint die Regierung von Präsident Aschraf Ghani wenig Verständnis für die Sorgen der Bürger zu haben. »Wer Angst hat, soll das Land verlassen. Wir bleiben hier«, meinte Ghani während einer Rede vor wenigen Wochen. Hamdullah Moheb, Ghanis Sicherheitsberater, wiederholte mehrfach, dass die afghanischen Truppen gegen einen Taliban-Vormarsch bestens ausgerüstet seien. Doch nun zeigt sich ein anderes Bild ab. Ghanis Administration ist mittlerweile bekannt dafür, den Bezug zur Realität verloren zu haben.

Der Abzug der US-Truppen lässt viele Afghanen in ein Déjà-vu verfallen: 1989 verließen die letzten sowjetischen Truppen nach zehnjähriger Besatzung Afghanistan. Das letzte kommunistische Regime von Mohammad Nadschibullah konnte sich drei weitere Jahre dank finanzieller und logistischer Unterstützung aus Moskau halten. Nachdem der Geldhahn abgedreht worden war, nahmen die Mudschahedin Kabul ein und ein neuer Spuk begann: Ein blutiger Bürgerkrieg brach aus und kostete Tausende Afghanen das Leben. Dann kamen die Taliban an die Macht und errichteten ihr Schreckensregime.

»In all den Jahren konnte die US-Truppen in Afghanistan nichts ausrichten. Ich denke nicht, dass ihr Abzug eine große Veränderung bringen wird«, meint Arzo Rahimi, eine Studentin aus Kabul. Sie wünscht sich keine Rückkehr der Taliban nach Kabul und hält derartige Szenarien für übertrieben. Man müsse sich auf wirtschaftliche Hilfe und regionale Zusammenarbeit konzentrieren. »Die Amerikaner haben hier ein Chaos hinterlassen und nun wollen sie schnell weg«, resümiert sie.

Der Alltag in der afghanischen Hauptstadt unterscheidet sich allerdings gravierend von anderen Landesteilen. Vor allem in ländlichen Regionen haben die Taliban schon seit langem wieder das Sagen, auch in manchen Kabuler Vororten sind sie präsent. Umso besorgter zeigen sich viele Frauen, die ein urbanes Leben führen und studieren oder berufstätig sind. »Der Abzug der ausländischen Truppen ist ein Geschenk für die Taliban. Sie haben nur darauf gewartet. Ich fürchte mich vor ihrer Rückkehr, sie betrachten Frauen nicht als Menschen«, sagt Marwa Hashemi, eine Ärztin aus Kabul.

Für Mohammad Zahed ist all dies Grund genug, Afghanistan zu verlassen. »Ich hoffe, dass die deutsche Bürokratie schnell vorangeht und wir endlich abreisen können«, sagt er. Sein Ziel: Stuttgart, wo Verwandte von ihm leben. »Ich möchte, dass meine Töchter zur Schule gehen können, ohne dass sie entführt oder von Bomben oder Terroristen bedroht werden«, meint Zahed.

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