Feldhamster ohne Feld

Ein Projekt der Deutschen Wildtier-Stiftung sucht nach landwirtschaftlichen Nutzungsarten, die seltenen Arten beim Überleben helfen

  • Benjamin Haerdle
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie aufgereiht an einer Kette laufen Menschen an einem Maivormittag über einen im Frühjahr angelegten Blühstreifen, den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet. Ihre Aufmerksamkeit gilt Löchern mit rund sechs bis acht Zentimetern Durchmesser, die auf einen nachtaktiven Bewohner der Ackerlandschaft hinweisen: Cricetus cricetus, der Feldhamster. Hier bei Köthen im sachsen-anhaltischen Landkreis Anhalt-Bitterfeld findet er noch eine Heimat, wie kurze Zeit später der Fund eines faustgroßen Loches beweist, das fast 70 Zentimeter in die Tiefe geht. »Wenn das Tier aus dem Winterschlaf erwacht, gräbt es sich senkrecht an die Oberfläche«, sagt Saskia Jerosch, die Umfang und Tiefe dieser sogenannten Fallröhre misst und die GPS-Koordinaten notiert. Seit 2018 koordiniert die Landschaftsökologin in Sachsen-Anhalt das Projekt »Feldhamsterland« der Deutschen Wildtier-Stiftung, das über das Bundesprogramm Biologische Vielfalt des Bundesamts für Naturschutz noch bis zum Jahr 2023 mit insgesamt 4,6 Millionen Euro gefördert wird. Auch in Niedersachsen, Hessen, Thüringen und Rheinland-Pfalz soll dem Nagetier mit dem Vorhaben geholfen werden.

Auf die Hilfe des Menschen ist der Feldhamster dringend angewiesen, denn in Deutschland ist die Art in der Roten Liste als vom Aussterben bedroht eingestuft und deshalb im Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, der Naturschutz-Richtlinie der Europäischen Union, gelistet. Wie viele Tiere es bundesweit noch gibt, kann niemand sagen, aber als sicher gilt: Die flächenmäßig größte Population findet sich länderübergreifend in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, von der Braunschweig-Hildesheimer Lößbörde bis in die Magdeburger Börde. Dort lockt der lockere und trockene Lößboden, in den sich der Hamster gut eingraben kann. Allerdings sind diese Flächen wegen der hohen Bodenfruchtbarkeit für die Landwirtschaft sehr attraktiv. »Der Feldhamster nimmt eine Schlüsselfunktion in der Agrarlandschaft zwischen Ökonomie und Ökologie ein«, erklärt Jerosch. Auf der einen Seite die Ansprüche einer vom Aussterben bedrohten Tierart, stellvertretend für andere selten gewordene Agrararten wie Feldlerche oder Rebhuhn. Auf der anderen Seite Erwartungen eines Landwirts, der sein Einkommen erwirtschaften muss. »Beide Ansprüche unter einen Hut zu bringen, ist für uns die große Herausforderung«, sagt die Projektkoordinatorin. Der Feldhamster brauche keine neuen Naturschutzgebiete, sondern eine landwirtschaftliche Nutzung, die seine Bedürfnisse berücksichtigt.

Wie diese Nutzung aussehen könnte, will man im Rahmen des Feldhamster-Projekts herausfinden. Es setzt aber voraus, dass bekannt ist, ob und wo die Tiere überhaupt noch vorkommen. Dieser Nachweis ist schwierig, denn der Hamster ist nacht- und dämmerungsaktiv. Selbst Jerosch sah voriges Jahr nur einmal ein paar neugierige Jungtiere auf einem frisch geernteten Feld. Statt auf Sichtungen setzt sie deshalb auf den Nachweis von Bauen. Und so streift der Trupp von Freiwilligen über Ackerflächen, wo Hamster vorkommen können oder tatsächlich leben, wie man aus früheren Kartierungen weiß. Drei Fallröhren finden sie insgesamt auf dem Blühstreifen, noch erfolgreicher sind sie auf einem Nachbarfeld: Auf der 26 Hektar großen Fläche finden sie an zwei Tagen 49 Baue - ein sensationelles Ergebnis. »Diese Fläche ist ein Paradies für Hamster«, sagt Jerosch. Das Paradies ist ein Weizenfeld, das mit einer Saatmischung aus Buchweizen, Bienenweide und Lein angereichert ist und bereits im Herbst eingesät wurde, ohne dass der Landwirt den Boden umpflügte. So fanden die Feldhamster nach dem Winterschlaf in diesem Frühling eben nicht wie so oft eine kahle Fläche vor, sondern dank der Vegetation ausreichend Deckung vor Fressfeinden wie Fuchs, Bussard, Rotmilan oder Graureiher. Und sie können sich über ein ausgewogenes Nahrungsangebot freuen. »Wildkräuter gibt es kaum noch in der ausgeräumten Agrarlandschaft, doch der Feldhamster braucht als Allesfresser ein abwechslungsreiches Angebot und verschmäht auch Schnecken, Käfer oder eine Maus nicht«, sagt Jerosch.

Mit sieben Landwirten kooperiert sie derzeit in Sachsen-Anhalt, Eicke Zschoche ist einer von ihnen. 400 Hektar Pachtland bewirtschaftet der Landwirt, überwiegend Ackerland. Ihm gehören die beiden Flächen, die die Freiwilligen an diesem Tag abgelaufen sind. Seinen ersten Hamster sah Zschoche Mitte der 1990er morgens um 4 Uhr, als er mit dem Traktor auf dem Kartoffelfeld unterwegs war. »Bei uns hieß es immer, Feldhamster gebe es nicht mehr. Das war offensichtlich ein Irrtum«, sagt er. Seit dieser Begegnung liegt ihm die Tierart am Herzen, auch wenn er, wie er einräumt, unterm Strich finanziell ein Minus macht, wenn er seine Felder hamsterfreundlich bewirtschaftet und dabei Ertrag einbüßt.

»Die Deckung nach der Getreideernte ist entscheidend für das Überleben der Tiere«, urteilt der Praktiker. Nur wenige Zentimeter große Stoppeln stehen zu lassen, reiche nicht aus. »Es braucht eine Zwischenfrucht, die unmittelbar zur Getreideernte eingesät wird, eine Untersaat oder Bicropping, bei dem Getreide und Weißklee gemeinsam angebaut werden«, sagt er. Eine andere Maßnahme, die dem Hamster ausreichend Deckung und Nahrung geben soll, ist der 36 Meter breite Blühstreifen, der nun Zschoches Zuckerrüben- vom Winterweizenfeld trennt. Mindestens zwei Jahre soll der Streifen stehenbleiben, das könnte im nächsten Jahr ein weiteres Hamsterparadies werden. Eine andere Schutzmaßnahme ist die sogenannte Ährenernte. Dabei werden bei der Getreideernte nur die Ähren abgemäht, Stoppeln mit einer Mindestlänge von 30 cm bleiben. Der Hamster hat dadurch genügend Schutz vor Greifvögeln und kann sich von übrig gebliebenen Getreidekörnern ernähren. 200 Euro pro Hektar zahlt die Deutsche Wildtier-Stiftung Betrieben, die diese Maßnahme umsetzen. Eine spätere Getreideernte, der Anbau von Luzerne mit bestimmten Mahd-Terminen oder ein streifenförmiger Anbau verschiedener Kulturen sind weitere Maßnahmen, die die Stiftung in dem Projekt erproben lässt.

Ob alle diese Maßnahmen wirklich helfen werden, das Überleben des Feldhamsters auf Dauer zu sichern, wird die Zukunft zeigen. Denn ein Problem bleibt: Die Tiere sind nur wenig mobil. »Männchen haben einen Bewegungsradius von rund 500 Metern, Weibchen zum Teil nur von 100 Metern. Zudem verhindern Straßen, Siedlungen und Wälder die Ausbreitung und damit auch die Verknüpfung zweier benachbarter Populationen«, sagt Tobias Reiners. Die Hamsterpopulationen litten folglich unter dem Verlust genetischer Vielfalt. Der promovierte Naturschutzgenetiker des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturmuseums in Frankfurt forscht seit vielen Jahren zum Feldhamster und begleitet das Stiftungsprojekt, indem er Haar- und Kotproben der Feldhamster genetisch untersucht und die Daten mit jahrzehntealten Museumsproben vergleicht. »Die genetische Diversität des Feldhamsters geht in allen Beständen in Deutschland zurück, im Westen noch stärker als im Osten. Zudem nimmt die Inzucht insbesondere in kleineren Populationen deutlich zu«, berichtet er. Die Inzucht habe zum Beispiel zur Folge, dass die Zahl der Nachkommen pro Wurf kontinuierlich sinke, die Individuen weniger widerstandsfähig gegenüber Krankheiten und Parasiten seien und sie weniger gut auf veränderte Umweltbedingungen wie etwa den Klimawandel reagieren könnten.

»Ich weiß, dass das viele anders und kritisch sehen, aber das Einzige, was aus meiner Sicht gegen den Rückgang genetischer Diversität hilft, ist ein genetisches Zuchtprogramm und die Auswilderung der Tiere auf geeigneten Agrarflächen«, sagt er. Erfolgreich umgesetzt wird das bereits im Heidelberger Zoo oder durch das Landesamt für Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz NRW. Der Wissenschaftler hat ein solches Zuchtprogramm auch für Hessen angestoßen. Er will südlich von Gießen zwei Hamsterpopulationen, die durch Wald, Dorf und Autobahn getrennt sind, verknüpfen. »Wir haben aus beiden Populationen Tiere gefangen, halten und paaren sie und siedeln sie dann wieder aus«, sagt Reiners. Er nennt dies das »Prinzip Arche Noah« - es könnte helfen, dem Feldhamster in Deutschland eine Zukunft zu geben.

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