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Das Gefühl, gebraucht zu werden

In der Hermsdorfer Porzellanfabrik funktioniert Inklusion. Hier arbeiten deutlich mehr Menschen mit Handicaps als in anderen Firmen

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 7 Min.

Mehr als eine Stunde lang hat Sybille Kaiser geduldig Fragen des Journalisten beantwortet. Doch dann - ganz plötzlich - weiß sie nicht, was sie sagen soll. Die Frage, die sie sprachlos macht, lautet: »Warum tun Sie das eigentlich?« Kaiser ist Geschäftsführerin der Porzellanfabrik in Hermsdorf, einer Kleinstadt in Ostthüringen. Etwa 100 Menschen sind in dem Betrieb beschäftigt. Ungewöhnlich ist, dass derzeit sieben von ihnen ein Handicap haben. Menschen mit geistigen Behinderungen sind darunter. Manche haben körperliche Behinderungen. Bei einigen ist die Behinderung angeboren, bei anderen ist sie erst im Laufe des Lebens aufgetreten. Aber für Kaiser macht das ohnehin keinen Unterschied.

Hilfen am Arbeitsplatz

Die Ausgleichsabgabe

Nur wenige Menschen in Deutschland werden mit einer Behinderung geboren. Alle relevanten Statistiken aus den vergangenen Jahren zeigen, dass Behinderungen in etwa 90 Prozent der Fälle erst im Laufe des Lebens durch Krankheiten erworben werden. Nur in etwa drei Prozent der Fälle kommen die Menschen mit einer Behinderung auf die Welt. Das erklärt auch, warum tatsächlich deutlich mehr Menschen in Deutschland eine Behinderung haben, als man gemeinhin glaubt.

Ende des Jahres 2019 - aktuellere Daten gibt es nicht - lebten etwa 7,9 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland; das entspricht einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von etwa 9,5 Prozent. Männer und Frauen waren davon gleich häufig betroffen. Etwa jeder zweite Deutsche, der ein Handicap hat, ist 65 Jahre oder älter.

Unternehmen, die im Jahresdurchschnitt über 20 oder mehr Arbeitsplätze verfügen, müssen nach dem Sozialgesetzbuch auf wenigstens fünf Prozent davon schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Dabei gelten alle Menschen als schwerbehindert, für die ein Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent festgestellt wurde. Unternehmen, die diese sogenannte Pflichtquote nicht erfüllen, müsse eine Ausgleichsabgabe zahlen. Diese Ausgleichsabgabe ist nach verschiedenen Faktoren gestaffelt und beläuft sich - je nach Faktor - auf einen dreistelligen Euro-Betrag pro Monat. sh

Bei einem Mitarbeitenden, der Sybille Kaiser besonders am Herzen liegt, war es eine Krankheit, die dazu geführt hat, dass sich seine frühere Lebensplanung nicht verwirklichen ließ und dass er nun einer der sieben Menschen mit Handicap ist, die in der Porzellanfabrik arbeiten. Florian Zapf kann heute kaum noch etwas sehen, weil er an einer Erkrankung namens Morbus Best leidet. Im Laufe seiner frühen Kindheit sind seine Augen immer schlechter geworden. Heute hat er eine Sehleistung, die nur noch fünf bis zehn Prozent der eines gesunden Erwachsenen entspricht.

Aber an seinem Arbeitsplatz gibt es Hilfen. Die Monitore, vor denen der 21-jährige Auszubildende sitzt, wenn er in der Firma ist, vergrößern die dort dargestellte Schrift enorm. Neben ihnen steht eine Spezialkamera, die Dinge vergrößern und direkt auf die Bildschirme projizieren kann, die auf Papier gedruckt sind. Eigentlich hatte Florian Zapf Sportmanagement studieren wollen. Das hat aber wegen seiner Behinderung nicht geklappt. Erst eine Odyssee durch mehrere Schulen und dann das zufällige Glück haben die Chefin und ihren heutigen Lehrling zusammengeführt. Als Zapf und Kaiser sich 2019 das erste Mal trafen, war für die Geschäftsführerin sofort klar, dass sie den jungen Mann einstellen würde. Eigentlich, sagt Kaiser, habe sie damals überhaupt keinen Nachwuchs in kaufmännischen Bereich gesucht. »Aber so einen jungen Mann kann man einfach nicht wegschicken«, sagt sie. »Bei ihm hat man sofort gemerkt, dass er eine Bereicherung ist.« Noch immer ist Kaiser über diese Entscheidung von damals ebenso froh wie Zapf. Er ist inzwischen im zweiten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Industriekaufmann. »Es ist einfach toll, wie viele Dinge ich hier über ein Unternehmen lerne«, sagt er. Dass es mit der Karriere in der Sportbranche nicht geklappt hat, schmerzt ihn heute nicht mehr wirklich.

Vorbehalte in Privatunternehmen

Diese Geschichte ist bezeichnend dafür, warum Kaiser lange nicht so recht weiß, was sie auf die Frage des Journalisten antworten soll, warum sie sich so sehr für Menschen mit Behinderung engagiert. Jene Frage also, die lautet: »Warum tun Sie das eigentlich?« Kaiser überlegt. Und überlegt. Sie schaut nach links auf ein rundes Regal voller Akten. Sie schaut nach rechts auf ihren Schreibtisch. Und überlegt. Die Sekunden verstreichen. Irgendwann sagt sie: »Ich verstehe die Frage nicht. Das sind doch alles Menschen.«

Doch so selbstverständlich, wie Kaiser das sagt, ist das nicht überall. In vielen Unternehmen arbeiten überhaupt keine Menschen mit Behinderung. Diese Firmenschefs würden noch immer lieber die sogenannte Ausgleichsabgabe zahlen, anstatt Menschen mit Handicap zu beschäftigen.

Ein Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit zur Situation schwerbehinderter Menschen in Deutschland vom Mai 2021 fasst diese Lage in Zahlen. Nach der Lektüre dieses Berichts wird deutlich, wie außergewöhnlich das ist, was in Hermsdorf gelebt wird. »Die Erwerbsquote schwerbehinderter Menschen hat sich in den letzten Jahren zwar erhöht«, steht dort. Das hat ebenso mit dem demografischen Wandel zu tun wie mit dem sich daraus ergebenden steigenden Fachkräftebedarf. »Sie bleibt aber weiterhin deutlich geringer als die Erwerbsquote der Bevölkerung insgesamt.« Lediglich 49 Prozent der Schwerbehinderten im Alter zwischen 15 und 65 Jahren hatten demnach im Jahr 2017 einen Job. Bei vergleichbar alten Menschen ohne Schwerbehinderung waren es etwa 78 Prozent.

Zudem weist der Bericht darauf hin, wie schwer sich vor allem Wirtschaftsunternehmen oft tun, Menschen mit Handicaps einzustellen. Während in der sogenannten freien Wirtschaft weniger Menschen mit Behinderung als gesetzlich gefordert arbeiteten, seien im öffentlichen Dienst mehr Jobs mit ihnen besetzt, als das eigentlich der Fall sein müsste. In diesem Bereich nimmt der Staat seine viel beschworene Vorbildfunktion offensichtlich wahr. Doch in der Wirtschaft hapert es noch immer.

Dabei kann Inklusion funktionieren, wie das Beispiel aus Hermsdorf zeigt. Im Jahr 2020 haben Kaiser und das Porzellanwerk den Integrationspreis für die Wirtschaft verliehen bekommen, den unter anderem die Bundesagentur für Arbeit und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände vergeben. Im Gespräch mit dem Journalisten räumt Kaiser mit vielen Vorurteilen auf, die es für gewöhnlich gegenüber der Einstellung von Menschen mit Handicaps gibt und die - jedenfalls auf den ersten Blick - zumindest aus Sicht eines Unternehmens auch nicht unberechtigt zu sein scheinen.

So verweist die Industrie- und Handelskammer Südthüringen darauf, dass bei der Kündigung von Schwerbehinderten besondere Vorschriften zu beachten sind. In der Regel muss das jeweils zuständige Integrationsamt zustimmen, wenn einem Menschen mit Handicap die Kündigung ausgesprochen werden soll. Das führt dazu, dass viele Unternehmer denken, sie würden einen einmal eingestellten Schwerbehinderten »nie wieder los«. Zudem mahnt die Kammer - die nicht Stimmung gegen die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung machen will, allerdings zu einer gut überlegten Entscheidung rät - schon bei der Anbahnung von Arbeits- und Ausbildungsverhältnissen sehr detaillierte und offene Gespräche zwischen Unternehmern und Menschen mit Behinderungen an. Grund dafür sei, dass sich oftmals nicht schnell abschätzen lasse, welche Tätigkeiten ein Mensch mit einer Behinderung ausführen kann und welche nicht.

Fleißige und loyale Mitarbeiter

Doch auch wenn Kaiser das nicht bestreitet, so wischt sie die Vorstellung beiseite, irgendetwas davon stehe einer Beschäftigung von Menschen mit Behinderung in einem Unternehmen irgendwie entgegen. Eigentlich gebe es in fast allen Unternehmen Tätigkeiten, die sie ausüben könnten, sagt Kaiser. Entweder am Empfang, am Telefon, in der Reinigung oder bei der Pflege der Außenanlagen.

Vor allem schwärmt Kaiser vom betrieblichen Alltag, der nach ihrer Erfahrung in Unternehmen einzieht, wenn dort Menschen mit Behinderung beschäftigt werden. »Sie sind die loyalsten, fleißigsten, motiviertesten Mitarbeitenden, die man haben kann - vorausgesetzt, man findet eine passende Arbeit für sie«, sagt Kaiser. Zudem bekämen Mitarbeiter ohne Handicap jeden Tag eine wichtige Perspektive auf ihr eigenes Leben, wenn sie mit Behinderten zusammenarbeiteten, sagt Kaiser. »Die Nichtbehinderten sehen erst mal, wie gut es ihnen geht.« Dann fügt sie einen bedeutungsschweren Satz hinzu: »Nichtbehindert zu sein ist ein Privileg, das einem jederzeit genommen werden kann.«

Jeder Weg durchs Haus ist ein Risiko

Dagegen fallen aus Sicht von Kaiser nicht einmal die erschwerten Kündigungsbedingungen für Menschen mit Behinderung ins Gewicht, die offenbar ohnehin nicht so schwer sind, wie sie scheinen. Sie selbst habe schon einmal einen Behinderten entlassen müssen, weil sein Arbeitsplatz weggefallen sei und sich in der Firma keine neue Beschäftigung für ihn finden ließ, sagt Kaiser. Die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen, sei bei ihr reine Formsache. Das gelte auch dann, wenn sich entgegen der Erwartungen bei der Einstellung zeigen sollte, dass die Chemie zwischen Arbeitgeber und Beschäftigtem nicht stimme.

So überzeugt war und ist Kaiser deshalb davon, welche Bereicherung Menschen mit Handicaps für Unternehmen sein können, dass sie Florian Zapf sogar eingestellt hatte, ohne für diesen Fall konkret zu wissen, welche staatlichen Zuschüsse sie erhalten konnte. Erst später habe sie erfahren, dass es Geld von der Arbeitsagentur unter anderem für die Monitore, die Kamera, die Spezialsoftware und ein paar Dinge mehr gebe. Dabei geht es konkret um etwa 25 000 Euro.

Im Ausbildungsalltag von Florian Zapf spielt dessen Behinderung allerdings so oder so keine zentrale Rolle. Nicht für ihn. Nicht für Kaiser. Und auch nicht für seine Kollegen. Der einzige Unterschied zu anderen Auszubildenden ist, dass seine Kollegen zu Zapf in das Büro kommen, wenn sie ihm etwas erklären wollen. Er geht nicht zu ihnen, weil jeder Weg durchs Haus für ihn ein Risiko ist. »Das sehe ich aber nicht als zusätzlichen Aufwand«, sagt Kaiser - ohne zu überlegen.

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