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Morgen wird alles besser
Der oscarprämierte Film »Minari« erzählt vom Innenleben einer Familie, die endlich ankommen will
So sieht er also aus, der amerikanische Traum in den 1980er Jahren: Ein Bungalow auf Rädern; wenn es regnet, läuft das Wasser durchs Dach in die Küchenschränke über die Teller auf den Fußboden. Der Job in einer Hühnerfabrik ist alles, aber eine Erfüllung ist er nicht. Auf dem Land, rings um den Bungalow soll Gemüse wachsen, das man verkaufen kann, aber bisher ist dort nichts, außer Dürre und Grasland. Trotzdem will es Familie Yi hier versuchen. Vor zehn Jahren kam Jacob mit seiner Frau Monica und der noch kleinen Anne in die Vereinigten Staaten. In Südkorea sah er für sich und seine Frau keine Zukunft, aber in Kalifornien sollte das bessere, schönere Leben beginnen.
Die beiden sortieren als Billiglohnkräfte in der Hühnerfarm männliche Küken aus, die in der kapitalistischen Verwertungslogik nicht zu gebrauchen sind, weil sie weder Eier legen noch schmecken. Tagein, tagaus Geschlechtsteile begutachten und entscheiden: linkes oder rechtes Körbchen. So hatte sich Jacob (Steven Yeun), ein echter Patriarch, der seinen Selbstwert daran misst, seine Familie versorgen zu können, das nicht vorgestellt. Jacob und Monica (Ye-Ri Han) sparen von dem wenigen, was sie haben, und ziehen mit den beiden Kindern - inzwischen ist der kleine David (Alan Kim) geboren - mitten ins Nirgendwo in Arkansas, um sich dort als Gemüsehändler für koreanische Kunden selbstständig zu machen.
»Leben, Freiheit und das Streben nach Glück«, heißt es in der Unabhängigkeitserklärung, das sind die großen Versprechen an alle Menschen, die es in den USA zu etwas bringen wollen - und es sind die Versprechen, wegen derer Zehntausende Asiaten jährlich in den 70er und 80er Jahren ihre Heimatländer verlassen haben, um in den Vereinigten Staaten ihr Glück zu versuchen.
Regisseur Lee Isaac Chung hat in »Minari« seine eigene Familiengeschichte verarbeitet, das merkt man an der Hingabe, mit der er die Hauptfiguren zeichnet. Das enge Band der Yis wird jedoch fragiler, je länger Jacob unbedingt an seinem Traum vom Landleben als Gemüsebauer festhält und desto häufiger er ignoriert, dass seine Frau todunglücklich mit der neuen Lebenssituation ist.
Wie ein Bote aus der Fremde erscheint da plötzlich Monicas Mutter aus Korea. Soon-Ja (Yuh-Jung Youn) entspricht so gar nicht der klassischen Großmutter, ist weder besonders häuslich noch altbacken, dafür kann sie spitzenmäßig Karten zocken und sagt Penis statt Ding-Dong. Sie bringt nicht nur allerhand Leckereien aus der Heimat mit, was Monicas Abscheu gegen das Landleben nur noch befeuert, sondern sie ist auch Balsam für die geschundene Familienseele. Der kleine David lässt sie anfangs zwar noch eiskalt auflaufen, doch wird die Großmutter langsam zu seiner Verbündeten.
»Minari« seziert eine Familie im Umbruch auf unglaublich liebevolle Weise. Die Familie kämpft mit sich und den äußeren Umständen, sucht Halt und ein Zuhause dort, wo niemand ist, der ihr Schicksal teilt. Sie sind die Ersten in dieser Region in Arkansas, koreanische Pilgrims, mitten im Bibel-Belt. Hier gibt es niemanden, der so aussieht wie sie, niemanden, der ihre Erfahrungen teilt. Dazu dieses Himmelfahrtskommando, in der staubtrockenen Gegend einen Gemüsehandel aufbauen zu wollen, woran die Familie fast zerbricht.
Die Geschichte der Familie Yi mag eine konventionell erzählte Parabel auf das selbstbestimmte Leben sein, auf Chancen, die nur einmal kommen, und auf den Zusammenhalt, egal wie viel Pech an einem zu kleben scheint. Dabei driftet Chung nie in den Kitsch ab, dafür ist die Dramaturgie zu schlau, bekommt die Geschichte an den entscheidenden Stellen immer wieder die Kurve, neue Wendungen einzubauen.
Die Charaktere sind mit großer Liebe zum Detail erarbeitet, kann Chung doch auf viele ähnliche Erfahrungen zurückgreifen. Vater Jacob ist nicht nur der Schnellste beim Bestimmen des Hühnergeschlechts, weil er glaubt, das gehöre zur Aufstiegsgeschichte dazu. Er sendet quasi minütlich die Botschaft aus, dass alles gut werden wird, indem er andauernd »okay« sagt, wenn Monica oder die Kinder etwas vorbringen. Manchmal hört er gar nicht richtig hin. Monica ist stets voller Sorgen, aber auch sie ist getrieben vom Verlangen, dazuzugehören. Übt nach der Arbeit zu Hause, beim Hühnersortieren schneller zu werden, will, dass die Familie zum Gottesdienst geht, und ermahnt ihren herzkranken Sohn, wann immer sie kann, sich nicht zu sehr anzustrengen. Dabei ist ihre Figur kein naiv-dümmliches Abziehbild der perfekten Mutter, sondern schlicht der schlaue, realistische Gegenpol zum Kopf-in-der-Luft-Vater Jacob, aber sie ist eben auch der Kleber, der die Familie zusammenhält. Bei Sohn David und Tochter Anne ist schnell klar, dass sie einmal zur Generation der Immigranten gehören werden, die angekommen sind, die ohne Akzent sprechen, die lieber Mountain Dew trinken als den selbst gebrauten stinkenden Sud, den die Großmutter aus Korea mitgebracht hat. Die aber auch die schwierige Rolle der Vermittler zwischen den Welten einnehmen werden müssen.
»Minari« erzählt in warmen Bildern und Kamerafahrten, die oft zusammen mit den Kindern auf Entdeckungsreise gehen, die Geschichte von Assimilation innerhalb einer Familie. Eine Außenwelt findet bis auf Gottesdienst- oder Arztbesuche in der Großstadt nicht statt. Interessant ist, dass Chung das Thema Rassismus fast komplett ausspart, weil er den Fokus auf das Innenleben der Familie richtet. Eine weise Entscheidung, denn so ist die Ansprache nicht geprägt von der Erwartungshaltung eines weißen Publikums.
Weil die meiste Zeit Koreanisch gesprochen wird, war der Film, der bei der Oscarverleihung 2021 als großer Favorit in vielen Kategorien galt, in den USA bei Preisverleihungen oft in der Sparte fremdsprachiger Film nominiert oder gar ausgezeichnet (Golden Globe). Die Geschichte über das Ankommen ist längst nicht auserzählt.
»Minari«, USA 2020. Regie: Lee Isaac Chung; mit: Steven Yeun, Ye-Ri Han, Alan Kim, Noel Kate Cho, Yuh-Jung Youn. 115 Min. Start: 15. Juli.
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