Fiktion wird real und Realität fiktiv
Ein Buch über letzte Dinge und ein Berlin-Roman noch dazu: »Asche« von Detlef Schulze
»Die Welt ist aus ihren Fugen getreten« - dieser Satz steht auf der Rückseite des Romans »Asche«. Ein Motto von Johann Wolfgang von Goethe aus dem »West-östlichen Divan« gibt es auch noch für diesen Debütroman von Detlef Schulze: »Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde«.
Detlef Schulze beschreibt eine Welt kurz vor dem Untergang. Ein Schiff fährt darin auf eine gewaltige Wasserwand zu. Die Kontinente sind längst zerstört, nur das Schiff reitet noch auf den Wellen. Die einen feiern ihren Untergang mit Champagnerkelchen, die anderen entleiben sich vorzeitig.
Ins Katastrophische und Apokalyptische mischt Schulze aber auch das Überzeitliche. Der Protagonist namens Asche ist eine aus den Zeiten gefallene Figur. Einerseits ein Mann des 20. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, der im Ostteil des Nachwende-Berlin lebt. Asche ist aber auch ein Wesen, das 20 Jahrhunderte »vor dem Gekreuzigten«, wie es an einer anderen Stelle heißt, bereits auf der Welt gewesen war. Ein längst Gestorbener und ein Lebender zugleich, ein Gemisch aus Asche, verkohlten Überresten also, und dennoch von prächtig zuckender Substanz.
Diese Doppelfigur ist ein weiteres Mal gespiegelt, und zwar in einem unbekannten Autor, der Asches Leben aufschreibt. Er kennt ihn sehr genau, behauptet auch, Asche begegnet zu sein. Asche selbst hingegen versucht lange vergeblich, herauszufinden, wer dieser Schreiber seines Lebens - und zugleich der Schreiber des ihm selbst übereigneten zukünftigen Erfolgsromans - sein könnte.
Fiktion und Realität schlagen hier seltsame Volten. Sie sind mitunter eines Thomas Pynchon würdig. Fiktion und Realität verbinden sich in Form einer Möbiusschleife. Fiktion wird real, Realität fiktiv. Man ist beim Lesen auch an die unmöglichen Figuren des MC Escher erinnert.
In weiten Teilen ist »Asche« allerdings auch ein Berlin-Roman. Zentraler Handlungsort ist das »Baal«, eine Bar in der Mulackstraße in Berlin-Mitte mit einer imposanten Spirituosen-Wand hinter der Bar, in der sich der Mann, dem die Tantiemen des Romans zufließen, oft aufhält. Die mit alkoholischen Tropfen gesättigten Aerosole des »Baal« dürften beim Entstehungsprozess des Werkes einigen Anteil gehabt haben. Es könnte eine gute Idee sein, sich dort in das Werk zu versenken. Man wird dann allerdings den hellen und scheinbar alles wissenden Blick von Barkeeper Erwin aushalten müssen. Auch der hat eine Doppelexistenz, im Buch und im leibhaftigen »Baal«. Vielleicht sprengt solch ein Unterfangen aber auch das Hirn. Die Ereignisebenen sind auch ohne Zufuhr geistiger Getränke bereits rauschhaft vielfältig.
Detlef Schulze, geboren vor 60 Jahren in Kühlungsborn - wie selbstredend auch Held Asche - entwirft eine Welt, in der Zeit und Raum anderen physikalischen Gesetzen zu gehorchen scheinen als denen, von denen unsere Physiklehrer*innen uns erzählten. Schulze verbindet Archaik und neues Millenium. Die Figuren darin sind zeitlos - ein jeder, eine jede auf der Suche. Sie suchen sich selbst, ihren Sinn, den Sinn ihres Lebens.
Diese Suche gestaltet Schulze durchaus virtuos. In interessantem, zuweilen auch störendem Kontrast dazu ist die recht bodenständig wirkende Sprache, die er benutzt. Neue Assoziationsräume öffnen die ins Buch eingestreuten Straßenfotografien von Theo Steiner. Ambitioniert ist auch die Gestaltung. Jede Ereignisebene hat ihren eigenen Schrifttypus, sogar die Farben der Seiten unterscheiden sich.
»Asche« ist ein Buch über das, was bleibt, wenn das Feuer des Lebens über alles hinweggefegt ist. Erschienen im Verlag des Musiklabels Moloko, das der Audiosparte immer mehr puren Text hinzufügt.
Detlef Schulze: Asche. Moloko Print, 300 S., br., 19,90 €.
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