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»Auch eine Klassenfrage«

Nur wenige Wissenschaftler*innen in Deutschland forschen zu Wohnungslosigkeit und Armut. Susanne Gerull über Hilfesysteme, Straßenzeitungen und strukturelle Ursachen

Sie forschen seit vielen Jahren zu Obdachlosigkeit. Wie sind Sie auf das Thema gekommen - und wie gestaltet sich diese Forschung?

Vorweg: Ich würde gern mit dem Begriff Wohnungslosigkeit arbeiten. Obdachlosigkeit ist nur ein Aspekt von Wohnungslosigkeit - sie betrifft Menschen, die auf der Straße leben, vielleicht Menschen, die in Notübernachtungen schlafen. Die Übergänge sind dabei fließend.

Auf Wohnungslosigkeit und Armut als Forschungsgegenstände kam ich, weil ich selbst als Sozialarbeiterin in der Wohnungsnotfallhilfe gearbeitet habe.
Susanne Gerull

Susanne Gerull ist Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Mit ihr sprach Tanja Röckemann.

Ein Bereich meiner Forschung besteht in der Durchführung von Wirksamkeitsstudien, aktuell evaluieren wir beispielsweise die beiden Housing-First-Projekte in Berlin. 2020 habe ich im Rahmen des Masterstudiengangs Praxisforschung an der Alice-Salomon-Hochschule eine Evaluation der Obdachlosen-Uni Berlin mit veröffentlicht. Ich habe aber auch eigenständige Forschungen zum Stand der Partizipation in der Wohnungsnotfallhilfe sowie zu Wegen aus der Wohnungslosigkeit durchgeführt: Wie kommen Menschen, die wohnungslos sind und zum Teil eben auch von der Straße aus eine Wohnung suchen, wieder in Wohnraum? Mit welchen Hilfen, aber auch mit welchen Eigeninitiativen haben sie das geschafft? Untersucht habe ich ebenso die niedrigschwelligen Hilfen wie Wohnungslosen-Tagesstätten und Streetwork, aber auch die Hilfen nach Paragraf 67 ff. SGB XII. Dieser Paragraf schreibt die Regelhilfe fest, bei der auch eine sozialarbeiterische Unterstützung und nicht nur eine Unterkunft gewährt wird.

Ein Grundthema, das mich in all dem umtreibt, ist die Defizitorientierung der Sozialen Arbeit in der Zusammenarbeit mit wohnungslosen Menschen.

Was bedeutet Defizitorientierung in diesem Fall?

Das ist generell ein Thema in der Sozialen Arbeit. Aber im Bereich Wohnungslosigkeit kommt es besonders häufig vor, dass die Sozialarbeiter*innen ihre Nutzer*innen, Adressat*innen, Klient*innen - welche Bezeichnung auch immer gewählt wird - als defizitär erleben. Bestenfalls sagen sie, das sind Opfer, ich muss ihnen helfen, schlimmstenfalls schauen sie sogar mit einer regelrechten Verachtung auf ihre Klientel. Das ist durch Studien belegt.

Letztendlich führt so ein rein defizitärer Blick vielleicht dazu, dass ich alles für diese Personen tue, aber nicht das, was Sozialarbeit eigentlich leisten soll, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe, Empowerment. Das bedeutet nun nicht, dass das System Wohnungslosenhilfe komplett defizitär ausgerichtet ist, aber an dieser Stelle hake ich immer gerne nach: Was steht in der Konzeption und was ist die professionelle Haltung, die meiner Meinung nach sehr mitentscheidend darin ist, ob eine Hilfe auch gelingen kann.

Wie wäre ein Blick, der nicht defizitorientiert auf die Menschen schaut, beispielsweise bezüglich der Wohnungslosigkeit?

Ressourcenorientierter Blick heißt wiederum nicht, wir sagen nur: Ach ist doch toll, Sie sind zwar wohnungslos und leben auf der Straße, sind psychisch krank, haben keine sozialen Kontakte, aber Sie können total schön malen! Wir müssen uns die Lebenssituation und die Lebensentwürfe anschauen, und da gibt es eben bei jedem Menschen auch Ressourcen. Es gibt Leute, die leben auf der Straße, haben aber ein Handy mit Internet und Flatrate. Oder vor Kurzem hat sich bei einer internationalen Onlinesitzung jemand vorgestellt, der saß zu dieser Zeit im Wald, weil er draußen lebt; sein Hund hat eine Solardecke über, damit speist er über eine Powerbank sein Handy und nimmt an Zoom-Konferenzen teil.

Zugleich ist es aber so, dass Hilfen ja nicht deshalb bewilligt werden, weil es einem wohnungslosen Menschen so gut geht, weil er so viele Ressourcen hat. Deshalb muss man als Sozialarbeiter*in permanent beschreiben, wie furchtbar es den Menschen geht. Und wenn ich immer diese negativen Berichte schreiben muss, damit die Hilfe weiter finanziert wird, komme ich vielleicht selbst irgendwann gar nicht mehr drauf, zu sehen: Was kann dieser Mensch, was möchte dieser Mensch? Inwiefern kann er oder sie auch über sich selber entscheiden, trotz hoher Problembelastung? Das ist zum Beispiel spannend an dem Ansatz von Housing First, dass die Menschen hier selbst entscheiden, wie viel Unterstützung sie haben wollen, über welche Themen sie sprechen wollen - wenn eine beispielsweise nicht über ihren Alkoholkonsum sprechen möchte, dann ist das eben so.

Letztlich sind Defizite und Ressourcen nur zwei Seiten einer Medaille: Die Soziale Arbeit muss ganzheitlich auf beides schauen, um die Menschen angemessen unterstützen zu können.

Was sind denn weniger individuell-defizitorientierte Umstände, die Menschen vom Zugang zu Wohnraum abhalten? Anders gefragt: Lässt sich das Problem Wohnungslosigkeit eigentlich aufheben, solange Wohnraum zum Beispiel profitabel sein muss?

Wenn wir beispielsweise in Berlin einen völlig überhitzten Wohnungsmarkt haben, wo Menschen, die aus welchen Gründen auch immer wenig Geld haben, überhaupt gar keinen bezahlbaren Wohnraum finden, dann ist das ein strukturelles Problem, das auf individuelle Probleme stößt: Jemand sucht sich zum Beispiel, wenn er oder sie die Wohnung nicht mehr bezahlen kann, keine Hilfe, geht nicht zum Sozialamt, obwohl es da eine rechtliche Grundlage gibt, dass sie die Mietschulden übernehmen sollen.

Kommt es auch vor, dass Menschen nicht wegen persönlicher Probleme auf der Straße landen, also weil sie ihren Lebensalltag nicht mehr bewältigen können, sondern weil sie schlicht und einfach gekündigt und/oder aus ihrer Wohnung vertrieben worden sind?

Man hört ja oft, jeder Mensch kann wohnungslos werden. Und da gibt es vielleicht einen wahren Kern - also auch ich als Hochschulprofessorin könnte wohnungslos werden, wenn morgen mein Freund vom Lkw überfahren wird, ich daraufhin in eine Krise stürze, dann irgendwann auch meine Hochschule sagen muss: Sorry, Lehre ist nicht mehr, ich dann in die Rente gehe und es aber, obwohl ich das Geld habe, nicht mehr schaffe, meine Miete zu zahlen. So könnte theoretisch auch ich auf der Straße landen.

Tatsächlich wissen wir aber aus Langzeitstudien, dass diejenigen Menschen überproportional häufig in der Wohnungslosigkeit landen, die bereits in ihrer Kindheit von Armut betroffen waren. Mir ist wirklich wichtig zu betonen, dass es eigentlich immer eine Kombination von kritischen Lebensereignissen ist, die zur Wohnungslosigkeit führt - zumeist eben bei Menschen mit wenig Selbstwirksamkeitserfahrungen, die auf strukturelle Ursachen treffen und sich darin nicht zu helfen wissen.

Also ist es am Ende eine Klassenfrage?

Es ist auch eine Klassenfrage, natürlich. Darunter fällt natürlich auch die Situation auf dem Immobilienmarkt, beispielsweise in Berlin: Wo Wohnraum so knapp ist und profitorientiert vergeben wird, nehme ich natürlich als Vermieterin, wenn sofort 500 Leute vor meiner Tür stehen, lieber die Professorin als die wohnungslose Person.

Sie haben auch zum Thema Straßenzeitungen geforscht, dazu im vergangenen Jahr einen Aufsatzband mit herausgegeben, der unter anderem »Anerkennungs- und Stigmatisierungsprozesse« untersucht. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Ich bin an das Phänomen Straßenzeitung und ihren Verkauf mit einem ethnografischen Blick herangegangen. Ich habe also nicht vorher überlegt, was könnten die Probleme sein, sondern bin auf die Straße gegangen und habe beobachtet, was da passiert. Ich habe Gespräche geführt mit Straßenzeitungsverkäufer*innen, die sehr unterschiedliche Dinge erzählt haben. Viele haben sich aber präsentiert als Menschen, die unglaublich viel Anerkennung erfahren durch diese Tätigkeit. Das ist eine eigene Deutung, dass sie sagen: Ich bettele hier nicht, sondern ich mache eine Arbeit. Und ich möchte auch keine Almosen haben, sondern eine Zeitung verkaufen.

Sind Straßenzeitungsverkäufer*innen überhaupt selbst überwiegend wohnungslos?

Gar nicht immer. Das sind zum Teil Rentner*innen oder andere Menschen, die zwar irgendwo wohnen, aber eben sehr prekär leben und sich mit dem Zeitungsverkauf ihr Arbeitslosengeld II ein bisschen aufbessern. Aber letztlich erfahren die Verkäufer*innen trotzdem dieselben Zuschreibungen wie wohnungslose Menschen: Du bettelst doch. Du tust doch nur so, als ob du das verkaufen willst - vermutlich ist das noch nicht mal eine aktuelle Zeitung. Du bist arbeitsscheu und stinkst. Bis hin zu der Unterstellung: Du bist doch wohnungslos, einfach weil du da mit einer Straßenzeitung stehst.

Einerseits kann ich es verstehen, dass da jemand - genau wie ich selbst ja auch - Anerkennung durch die Arbeit sucht. Andererseits scheint es problematisch, wenn hier das einfache Schnorren delegitimiert wird, weil solch ein Druck entsteht, irgendeine Leistung bieten zu müssen.

Ja, da ist viel Konkurrenzkampf und zum Teil auch Hass entstanden. Personen etwa, die ich auch aufgrund der Sprache eher gelesen habe als aus Osteuropa stammend, werden oft weggejagt und als Diebe und Betrüger beschimpft. Es gibt Menschen, die kein aktuelles Zeitungsexemplar haben, das sie verkaufen können - weil das eh schon völlig zerfleddert ist oder aus dem letzten Jahrhundert stammt -, die wegen ihrer Armutssituation schnorren, weil sie keine Ansprüche auf Sozialleistung haben oder weil ihnen diese nicht gewährt wird.

Wenn so jemand dann aber feststellt: Auch mir schmeißen Leute eher mal zehn Cent in den Becher, wenn ich dazu wenigstens irgendeine Straßenzeitung hochhalte, dann werden sie massiv herabgesetzt, eben auch von anderen Straßenzeitungsverkäufer*innen.

Das ist ja wiederum die ganz normale kapitalistische Arbeitswelt, das Konkurrenzverhältnis, in dem alle zueinander stehen ...

Ja, aber hier es geht auch um rassistische Zuschreibungen, es geht um als »Zigeuner« bezeichnete Menschen, die »nur betteln«. Das mag aus Sicht der Straßenzeitungsverkäufer*innen nachvollziehbar sein, die tatsächlich ein aktuelles Produkt verkaufen - aber sie projizieren eben ein rassistisches Bild, um sich selber auf- und die anderen abzuwerten. Das ist ja kein guter Mechanismus.

Und dass so etwas überhaupt abläuft, hat auch wieder strukturelle Gründe. In dem Augenblick, wo alle diese verschiedenen Menschen hier anerkannt wären und vielleicht gar keine Straßenzeitungen verkaufen müssten, weil es ein Hilfesystem gibt, das sie so unterstützt, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können - in dem Moment hätten wir vermutlich auch dieses Rassismusproblem nicht.

Würden Sie unterm Strich trotzdem sagen, dass es praktische Erfolge zeitigt, Armut und Wohnungslosigkeit zum Gegenstand universitärer Forschung zu machen?

Ja, auf jeden Fall. Zum einen, wo es um Wirksamkeitsforschung geht. Wenn ich zum Beispiel die Abschlussberichte für die Housing-First-Projekte erstelle, dann wird das natürlich von der sozialhelferischen Praxis und auch von der Politik zur Kenntnis genommen. Zum anderen aber auch im Hinblick auf die Praxisforschung. Ich forsche aufgrund von Fragestellungen aus der Praxis und spiegele die Ergebnisse dann wieder in die Praxis zurück, um das Hilfesystem durch Hochschulforschung tatsächlich mit weiterzuentwickeln.

Hier muss man allerdings betonen, dass es unglaublich wenige Professor*innen in Deutschland gibt, die als Forschungsbereich das Thema Wohnungslosigkeit angeben - an den Universitäten sowieso nicht, aber an den Fachhochschulen auch nur ganz wenige.

Das Stigma überträgt sich also sogar auf die Forschung?

Natürlich. Große Stiftungen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) haben das Thema Wohnungslosigkeit gar nicht auf der Agenda, die fragen: »Wohnungs-was?«

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