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»Der Subtext dieser Erzählung bleibt ihm verborgen«
In einer SWR-Sendung ordnete der Literaturkritiker Denis Scheck Christa Wolfs Erzählung »Kassandra« in seinen »Anti-Kanon« der schlechtesten Bücher ein. Simone Barrientos (Linke) kritisiert Inszenierung und Ton des Verrisses
Dieser Tage haben Sie sich auf Facebook über Denis Scheck empört, den bekannten Fernseh-Literaturkritiker.
Eigentlich halte ich mich mit Kritik an öffentlichen Medien zurück, weil ich Politikerin bin. Aber ich bin eben auch eine ehemalige Verlegerin, ich bin ostdeutsch sozialisiert, und nicht zuletzt bin ich eine Frau. Ich war also an drei Punkten getriggert, sodass ich nicht anders konnte, als mich zu äußern.
Simone Barrientos ist kulturpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag. Sie betrieb von 2007 bis 2017 den Kulturmaschinen-Verlag und gehört dem Freundeskreis des deutschen PEN an.
Was war denn passiert?
Ich bin über ein Video gestolpert, von einer Literatursendung auf dem SWR von Denis Scheck. Darin macht er eine Reihe, einen - wie er es nennt - Anti-Literaturkanon: die seiner Auffassung nach schlechtesten Bücher in deutscher Sprache. Ich finde ja, man sollte sich eher mit dem Kanon beschäftigen. Einen Anti-Kanon zu schreiben, finde ich schräg. Aber bitte. Bemerkenswert ist, dass er sich in dieser Reihe als ersten Titel Hitlers »Mein Kampf« vornimmt. Um Literatur kann es also nicht gehen, oder? Aufmerksam geworden bin ich auf die Sendung aber, weil er in der gleichen Reihe Christa Wolfs Erzählung »Kassandra« verreißt. Ein Verriss ist sein gutes Recht, er muss das Buch nicht gut finden.
Aber?
Die Inszenierung. Der Kontext. Der Ton. In dem Clip, der im Internet in der Mediathek zu finden ist, sitzt ein Mann in einem weißen Raum, in einem weißen Anzug. Und meine Assoziation, und nicht nur meine, war: Okay, jetzt ist er Gott geworden. Nach dem unvergessenen »Literaturpapst« Reich-Ranicki nun also Denis Scheck, der »Literaturgott«. Das ganze Setting im Video impliziert: Er ist der allmächtige Scheck! Und dann ergreift Gott das Wort und verdammt dieses Buch. Aber nicht nur die Erzählung, auch die Erzählerin wird verdammt. Auf verächtliche Weise, bösartig, ignorant und arrogant. Abgesehen davon, dass ich seine Kritik an »Kassandra« falsch finde. Aber das geht in Ordnung, das darf er und das soll er - die Art und Weise aber, wie er über Christa Wolf redet, steht ihm nicht zu.Scheck verreißt die Schriftstellerin Christa Wolf, die für mich und viele andere in der DDR extrem wichtig war. »Kassandra«, das war eine Offenbarung! Christa Wolf schrieb ja nicht wirklich über den Trojanischen Krieg. Insofern ist sein Vorwurf, wer dieses Buch liest, würde den Trojanischen Krieg nicht verstehen, absurd. Nach diesem Buch haben viele Menschen das Leben anders gesehen, die weite Welt in der kleinen DDR. Aber davon hat Scheck keine Ahnung, der Subtext dieser Erzählung bleibt ihm verborgen.
Eben in dieser Ignoranz liegt seine intellektuelle Bankrotterklärung. Goethe verlangte von einem Kritiker, dass er sich fragt: »Was hat sich der Autor vorgesetzt? Ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig? Und inwiefern ist es gelungen, ihn auszuführen?« Keine dieser Fragen hat sich Scheck gestellt, und so konnte er sie auch nicht beantworten. Ohne Kontext aber, ohne Kenntnis auch, was DDR-Literatur ausmacht und wie sie wirkte, macht er die gesamte DDR-Literatur verächtlich - und in der Konsequenz auch die Menschen, die diese Literatur geliebt haben und noch heute schätzen und lesen. Am Ende des Videos richtet Gott seinen Finger auf das Buch, und es geht in Flammen auf, verlischt. Da wurde mir kalt vor Zorn.
Warum?
Er darf das Buch beschissen finden. Er darf auch sagen, es gehört nicht in seinen Kanon. Das Buch aber zu löschen, und das tut er, das ist infam. Und natürlich entsteht da auch eine Assoziation zur Bücherverbrennung. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass Scheck, um genau diesen Vorwurf auszuhebeln, den Verriss von Hitlers »Mein Kampf« an den Anfang der Reihe gesetzt hat. Aber ich mag mir nicht seinen Kopf zerbrechen.
Der Grazer Literaturprofessor Klaus Kastberger merkt an, dass Scheck das Buch nicht verbrennt, sondern wegzaubert.
Wir sehen Feuer, wir sehen Rauch, und wir sehen Ruß. Weg ist weg. Das Problem ist doch ein grundsätzliches: Literaturkritik darf robust sein, scharf und sogar vernichtend. Reich-Ranicki wusste und konnte das. Sie kann aber auch eine Orientierungshilfe bieten. Wer ein Werk im Fernsehen kritisiert, hat Verantwortung. Wenn am Ende der Kritiker im Mittelpunkt steht, wenn er sich überhöht und selbst inszeniert, dann geht es offensichtlich nicht um das Werk, nicht um Literatur und schon gar nicht um den Menschen, der das Werk geschaffen hat.
Die Schriftstellerin Annett Gröschner schrieb über Scheck auf Facebook: »man möchte ihn in seinem weißen anzug ja gerne mit jener blutwurst beschmeißen, an die ihn kassandra erinnert. aber eigentlich beschreibt er in der kassandra-vernichtung doch nur seine eigene angst vor der vernichtung von männern wie ihm.«
Dem möchte ich nicht widersprechen.
Liegt das Problem nicht beim Sender, weil er ein solches Format produziert?
Ich finde es auch schwierig, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender ein Format macht, in dem so etwas passiert. Meine Aufgabe als Politikerin ist es aber nicht, die Programmfreiheit infrage zu stellen, sondern zu schützen. Es gilt die Freiheit des Wortes, auch für Denis Scheck. In diesem Konflikt müssen andere ran, das ist Aufgabe der Zivilgesellschaft. Ich wünsche mir ein breites Bündnis von Schriftstellern und Dichterinnen, von Kritikerinnen und Journalisten auch, die ihren Berufsstand verteidigen, gemeinsam mit dem PEN, dem Schriftstellerverband, zum Beispiel. Ein solches Bündnis sollte mit dem Sender das Gespräch führen.
Was bedeutet Ihnen »Kassandra«?
Die Ohnmacht, ein Unglück kommen zu sehen, eine Katastrophe, und nichts dagegen tun zu können, kennen viele Menschen. »Kassandra« lebt als Erzählung von dieser bedrückenden Stimmung, die in den 80ern sehr viele Menschen empfunden haben.Christa Wolf hat da einen Nerv getroffen. Sie schrieb, was viele von uns fühlten. In ihrem Essay »Lesen und Schreiben« erklärt sie: »Prosa kann die Grenzen unseres Wissens über uns selbst weiter hinausschieben. Sie hält die Zukunft in uns wach, von der wir uns bei Strafe des Untergangs nicht lossagen dürfen.« Und darum geht es. Für Christa Wolf war Literatur ein »Erfahrungsspeicher«, den wir bewahren müssen. Diese Erfahrung aber, das Leben in der DDR, wird im Westen immer noch belächelt, diffamiert und kleingeredet.
Identifizieren Sie sich mit Kassandra?
Ich bin keine Königstochter, und hellsehen kann ich auch nicht. Aber das Gefühl, die Katastrophe auf uns zukommen zu sehen und nicht aufhalten zu können, das ist mir sehr vertraut. Und die Männer, gegen die sie sich behauptet, kenne ich. Sie begegnen mir täglich.
Denis Scheck sprach auch Christa Wolfs Jahre im ZK der SED an.
Was für eine Niedertracht. Christa Wolf, die lange Zeit für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch war, war von 1963 bis 1967 Kandidatin für das ZK der SED. Das ist bekannt. Umwege verbessern die Ortskenntnis. Denis Scheck möge sich doch bitte die Protokolle und Tonbänder des berüchtigten Kahlschlag-Plenums vom Dezember 1965 zukommen lassen, insbesondere Christa Wolfs Redebeitrag. Diese Schriftstellerin hat unglaubliches Rückgrat bewiesen, das verdient Respekt. Ich erinnere auch an ihre Rolle beim Protest vieler DDR-Künstler gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Christa Wolf hat vielen Menschen Mut gemacht. Niemand muss ihre Bücher lesen, ihr Andenken aber derart in den Dreck zu ziehen, sie in eine Reihe mit Adolf Hitler zu stellen, ihr Werk weghaben zu wollen, das ist erbärmlich.
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