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Neustart in Erfurt ohne Neuwahl?
Rot-Rot-Grün hofft nach der Absage der Parlamentsauflösung auf die konstruktiven Kräfte in den Fraktionen von CDU und FDP
Wie sich die Tonlage doch geändert hat. Und das faktisch innerhalb von Stunden. Die Vorsitzenden der Fraktionen der Linken, der Grünen und der SPD betonten am Freitag unisono, es sei jetzt nicht die Zeit für Schuldzuweisungen. Zuvor hatten sie bekannt gegeben, dass Abgeordnete von Linkspartei und Grünen ihre Unterschriften unter den Antrag der Fraktionen der Minderheitsregierung zurückziehen werden. Damit ist die für den 26. September geplante vorgezogene Neuwahl des Thüringer Landtags abgesagt. Und es ist unwahrscheinlich, dass es überhaupt noch zu einer vorgezogenen Wahl kommt.
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In den letzten Monaten hatten Spitzenvertreter von Linke, SPD und Grünen im Thüringer Landtag den Verantwortlichen in der CDU-Fraktion hingegen immer wieder vorgeworfen, sie hätten ihr Wort gebrochen, indem sie nicht alle zugesagten Stimmen für die Auflösung des Parlaments lieferten. Denn vier Abgeordnete der CDU hatten bereits vor Wochen angekündigt, sie würden Mitte Juli nicht für die von Rot-Rot-Grün beantragte Auflösung des Erfurter Parlaments stimmen – also sich auch der eigentlich vereinbarten Neuwahl entgegenstellen. Angesichts der fehlenden 60-Stimmen-Mehrheit für die Landtagsauflösung vonseiten der demokratischen Parteien betonten die Vertreter von Rot-Rot-Grün nun, man könne sich nicht zum Spielball der AfD machen.
Zugleich wollen weder Linksfraktionschef Steffen Dittes noch seine Grünen-Kollegin Astrid Rothe-Beinlich und schon gar nicht der SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Hey die scharfe Kritik aus der Vergangenheit wiederholen. »Wir müssen jetzt am Problem arbeiten und nicht an der Schuldfrage«, sagte Hey stattdessen am Freitag. Außerdem seien die Fraktionen von CDU und FDP »durchweg demokratisch geprägt«. Und er fügte hinzu: »Wir müssen jetzt unter Demokraten versuchen, dieses Land auf Kurs zu halten.«
Auf den Landtagsfluren wurde zuvor unterdessen seit Tagen erzählt, manche und mancher Grünen-Abgeordnete habe nicht nur ein Problem damit, wenn der Landtag mit Stimmen der AfD aufgelöst worden wäre, sondern auch damit, wenn die entscheidende Stimme vom FDP-Fraktionsvorsitzenden Thomas Kemmerich gekommen wäre. Kemmerich hatte sich am 5. Februar 2020 mit den Stimmen der AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten wählen lassen. Dann hatte er die Wahl auch noch angenommen – und damit überhaupt erst jene Situation herbeigeführt, die durch die nun geplatzten Neuwahlen hatte bereinigt werden sollen.
Jetzt ist das rot-rot-grüne Minderheitenbündnis da, wo es im Oktober 2019 schon einmal war, als nach der Landtagswahl klar wurde, dass Linke, SPD und Grüne ihre Einstimmenmehrheit im Parlament verloren haben. Nun muss sich die Koalition wieder um irgendeine Art Pakt mit CDU und/oder FDP bemühen. Man ist also gezwungen, die Hand auszustrecken.
Denn eines machten Dittes, Hey und Rothe-Beinlich am Freitag auch deutlich: Noch einen Anlauf zur Auflösung des Landtages wollen sie nicht nehmen. »Unsere Verantwortung ist es nicht, alle halbe Jahre zu versuchen, den Landtag aufzulösen«, sagt Dittes. Rothe-Beinlich zählt die Vielzahl von Problemen auf, die es im Freistaat zu lösen gilt und die durch die Coronakrise noch größer geworden sind, im Bildungsbereich zum Beispiel. Hey spricht gar von »einer Art Schicksalsgemeinschaft«, in der man sich nun bis zur regulären Neuwahl im Jahr 2024 befinde.
Auf Spekulationen, Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) könnte versuchen, eine Neuwahl zu erzwingen, indem er die Vertrauensfrage stellt, will sich derzeit erst recht niemand einlassen. Zumal dieses Vorgehen wohl mit noch viel mehr parlamentarischen Fallstricken verbunden wäre als der gescheiterte Versuch, die Selbstauflösung des Landtages durch die Fraktionen herbeizuführen.
Ramelow erklärte am Freitagabend, er nehme die Rücknahme des Antrags auf Landtagsauflösung mit Respekt zur Kenntnis. Es gelte nun, »in Ruhe und in größtmöglicher Sachlichkeit dafür Sorge zu tragen, dass die für unseren Freistaat Thüringen, seine Kommunen und die Bürgerinnen und Bürger wesentlichen Entscheidungen getroffen werden können«. Das gelte vor allem für den Haushalt 2022.
Wie schwierig es für Rot-Rot-Grün werden dürfte, zu einer verlässlichen Vereinbarung mit Union oder Liberalen zu kommen, machen die ersten Reaktionen auf die Neuigkeiten vom Freitag klar. Die von Kemmerich ist noch die freundlichere. Er sagte, man müsse nun im Interesse des Landes den Blick nach vorn richten: »Wir Freien Demokraten werden uns weiterhin konstruktiv in die parlamentarische Arbeit einbringen.« Dagegen stellte CDU-Fraktionschef Mario Voigt klar: »Mit der parlamentarischen Sommerpause endet jegliche Zusammenarbeit.« Man werde zwar in den Gremien der CDU über das Ansinnen von Rot-Rot-Grün reden, neue Übereinkünfte zu schließen. Doch seine persönliche Meinung dazu sei: »Es wird hier keine Vereinbarung geben.«
Vertreter von Rot-Rot-Grün setzen nun darauf, für wichtige Gesetzesvorhaben und Projekte wechselnde Mehrheiten mit Stimmen von CDU und FDP zusammenzubekommen. Wichtig sei, dass nun wieder ein gewisses Maß an Vertrauen zwischen Rot-Rot-Grün sowie CDU sowie FDP entstehe, meint etwa Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke): »Ich hoffe, dass sich über die Sommerpause setzt, was hier gelaufen ist, und dass die Vernunft siegt.«
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