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Visuelle Selbstvergewisserung

Durch Bilderfluten waten: Die Ausstellung «Send me an Image» im C/O Berlin erkundet die Geschichte des verschickten Bildes von der Postkarte bis zum Posting in den sozialen Medien

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich sehe mich, also bin ich« - so dürfte der berühmte Grundsatz »Ich denke, also bin ich« des Renaissance-Philosophen René Descartes an heutige Zeiten angepasst lauten. Wahrnehmung, auch die Eigenwahrnehmung, erfolgt in großem Maße über Bilder, auf denen man sich selbst sieht. 350 Millionen solcher visueller Existenznachweise werden beim Social-Media-Giganten Facebook täglich hochgeladen. Die Zahl stammt aus dem Jahre 2018, sie dürfte wegen zunehmender Bild-Versende-Praktiken weiter gestiegen sein.

Das Ausstellungshaus für Fotografie und visuelle Medien C/O Berlin geht aktuell mit der Themenausstellung »Send me an Image« der Lust am Bilderverschicken auf den Grund. Den Anfang machte ein gewisser Philippe Kahn. Am 11. Juni 1997 nahm er nicht nur ein Foto seiner gerade geborenen Tochter mit einer Casio-Kamera auf. Der IT-Entwickler verknüpfte die Kamera auch mit einem Toshiba-Laptop und einem Motorola-Handy. Den etwa 2000 Personen in seinem Adressbuch schickt der Sohn einer französischen Résistance-Kämpferin und Auschwitz-Überlebenden, der einst illegal in die USA eingewandert war, zwar nicht das komplette Foto. »Das hätte damals astronomische Gebühren gekostet«, blickte er später zurück. Er versandte vielmehr die Adresse zu einer Website, die er schnell gebastelt hatte, auf der sich das Foto befand und das von den angeschriebenen Personen per Passwort betrachtet oder heruntergeladen werden konnte.

Foto, Laptop, Handy und Kamera sind in einer Vitrine ausgestellt - eine Art Schrein des Internets 2.0. Denn Kahn erfand neben dem Handyfoto das Prinzip der Plattformen, über die Bilder geteilt werden können, gleich mit. In einem Interview zum 20. Jubiläum dieses Ereignisses erklärte Philippe Kahn, sich der Bedeutung schnell bewusst gewesen zu sein: »Ich habe das wegen der Reaktionen meiner Freunde, der Familie und der Geschäftspartner sofort realisiert. ›Wie hast du das gemacht?‹, fragten sie. Die Leute sahen, dass das magisch war - selbst mit einer geringen Auflösung. Ich sage immer: Bilder sind wie Kunst. Es geht nicht um Detailtreue, sondern um die Emotionen, die sie vermitteln.«

Die Ausstellung »Send me an Image« folgt diesem Ausspruch Kahns auf verschiedene Weise. Sie geht einerseits der Spur der Emotionalität nach. In der Arbeit »Blame the Algorithm« stellen die Künstler Adam Broomberg und Oliver Chanarin Fotos aus, die sie als Gastredakteure des Magazins »Der Greif« sammelten. Sie baten dann einen früheren Facebook-Moderator, die Fotos nach den Kriterien seines einstigen Auftraggebers zu sortieren: in »gute«, also veröffentlichungswürdige, und »schlechte«, also laut politischen und ästhetischen Vorgaben nicht zum Upload zugelassene Aufnahmen. Beispiele beider Bildgruppen, also »gute« wie »schlechte« Bilder, werden gegenübergestellt - und sorgen ganz unmittelbar für Emotionen.

Interessant ist auch die Verwandlung, die ein ikonisches politisches Bild durchlief. Während der Proteste und des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 trat ein Mann mit Einkaufstüten in beiden Händen zwischen eine Panzerkolonne. Aus verschiedenen Positionen wurde die Situation festgehalten und fand den Weg in die Weltpresse. Die Identität des »Tank Man« (Panzermannes) ist bis heute nicht bekannt. Das Bild selbst erfuhr zahlreiche Veränderungen. In einer wurden die vor ihm stehenden Panzer durch gelbe Plastikenten ersetzt. Nur auf diese Art und Weise konnte das Foto überhaupt in China verbreitet werden. Mit den Enten wurden die Zensur-Algorithmen zumindest kurzzeitig überlistet. Drei quietschgelbe Enten in Militärfahrzeuggröße stehen jetzt auch auf dem Bürgersteig vor dem C/O Berlin.

Ein anderer Pfad der Ausstellung verfolgt die technische Entwicklung. Beispiele von Fotoalben, von bebilderten Visitenkarten berühmter Personen und natürlich von Postkarten sind ausgestellt. Sie verweisen auf die schon im frühen 20. Jahrhundert herrschende Vorliebe, über Bilder Nachrichten und Emotionen auszutauschen.

Den wichtigen Übergang von analog zu digital illustrieren Bilder vom Mars, die die Raumsonde Mariner IV der US-Raumfahrtbehörde Nasa 1965 aufnahm. Weil die Übertragung der Bilder mehrere Stunden in Anspruch nahm, behalfen sich die Nasa-Ingenieure damit, nur die Nullen und Einsen der jeweiligen Bilddatei auszudrucken und nach einem vorher festgelegten Farbschema auszumalen. Das digitale Bild wurde hier händisch produziert - Malen nach Zahlen gewissermaßen, aber nicht in der Kita, sondern bei der Nasa.

Die aktuellen Bilderfluten setzen die Kurator*innen Felix Hoffmann und Kathrin Schönegg ebenfalls in Szene. Der niederländische Künstler Erik Kessels hat einen Berg aus 350 000 ausgedruckten Bildern aufgebaut - so viele wurden vor 17 Jahren täglich auf der Plattform Flickr hochgeladen. Vergrößert man den Berg um das Tausendfache, kommt man auf die Dimension des täglichen Uploads bei Facebook heute. Der Bildberg würde durch die Decke schießen und wohl mit dem Turm der nahe gelegenen Gedächtniskirche konkurrieren.

Die wachsende Installation »Social Printer« des französischen Künstlers Romain Roucoules spuckt über vier Thermodrucker die Bilder aus, die unter den Hashtags coberlin, tankman und me auf der Plattform Instagram zu finden sind. Beim Ausstellungsbesuch Anfang Juni arbeiteten die Thermodrucker noch recht gemächlich.

Auf neuere und komplexere Verfahren der Bildverarbeitung weist der Corona-TV-Bot des Schweizers Marc Lee hin. Er programmierte einen Bot, also ein Computerprogramm, das automatisiert die Plattformen Twitter, Instagram und Youtube nach Bildern und Videos zu Corona durchsucht und zu einer großen digitalen TV-Wand in Echtzeit komponiert. Bewaffnete Dschihadisten, Desinfektionsapparaturen, Krankenwagen und Nachrichtensprecherinnen aus allen Weltgegenden tauchen dort simultan auf und machen in wenigen Sekunden den globalen Charakter der Pandemie deutlich.

»Send me an Image« ist eine sorgsam kuratierte und vielschichtige Ausstellung über die Explosion des Visuellen in unseren Zeiten. Interessant wäre allerdings noch ein Blick in jene Bilduniversen gewesen, auf die lediglich der Blick jener Person gefallen ist, die die Bilder hochgeladen hat - und die trotz aller Verfügbarkeit von keinem anderen Menschen je betrachtet oder gar des Teilens für würdig gehalten wurden. Das Schattenreich der ungesehenen Bilder dürfte mit der Bildproduktion an sich Schritt halten.

»Send me an Image. From Postcards to Social Media«: bis 2. September im C/O Berlin, Amerika-Haus, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin, täglich 11 bis 18 Uhr.

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