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Hoffnung und Angst am Tag der Freiheit
Auf Betreiben von Premier Johnson fallen in England die Corona-Beschränkungen trotz der dritten Welle
Auf den ersten Blick ist es ein ganz normaler Pandemie-Montag. Im Zentrum von Harrow, einer Vorstadt im Nordwesten Londons, beginnt um 8.30 Uhr langsam das Leben, die Geschäfte machen die Türen auf, die Leute warten in der Sandwich-Bar auf ihren Kaffee. Erst beim näheren Hinblicken merkt man, dass dieser Tag anders ist. Dicht an dicht stehen die Leute Schlange, und praktisch niemand trägt eine Gesichtsmaske - bis auf eine Verkäuferin, die sich das Stück Stoff allerdings lässig ums Kinn gehängt hat.
Die britische Boulevard-Presse, die eine Schwäche für kriegerische Metaphern hat, nennt dies »Freedom Day«, den Tag der Freiheit. Ab heute gelten in England keinerlei Corona-Einschränkungen mehr, zumindest keine, die die Regierung vorschreibt. In Schottland, Wales und Nordirland gehen die Regionalregierungen vorsichtiger vor. Aber in England gibt es keine Maskenpflicht in Geschäften, in Pubs oder in Theatern, keine maximale Zahl von Besuchern in Museen und an Konzerten - nichts. Um Mitternacht öffneten zudem die Nachtclubs erstmals seit Beginn der Pandemie.
In Harrow trifft man Leute, die auf diesen Tag gewartet haben. Faisal, ein 35-jähriger Eisenbahn-Angestellter, findet nicht, dass ihn die Regierung dazu zwingen dürfe, einen Gesichtsschutz zu tragen - tut er darum auch nicht mehr. »Früher oder später werden sowieso alle an Covid erkranken«, meint er. »Das wird sein wie bei der Grippe. Natürlich ist Covid schlimmer, aber trotzdem können wir die Einschränkungen nicht ewig beibehalten.« Auch der Gemüsehändler im Bahnhof, der gerade seine Pfirsiche in die Auslage stellt, blickt den kommenden Wochen mit Optimismus entgegen - während der Pandemie sei es hart gewesen fürs Geschäft, niemand habe mehr Zeit in der Halle verbringen wollen als nötig, sagt der junge Mann. Das werde sich hoffentlich jetzt ändern.
Allerdings spürt man hier auch bei jenen, die die Öffnung begrüßen, kein Triumphgefühl. Dazu passt, dass die Regierung ihre Rhetorik in den vergangenen Tagen zurückgefahren hat - im Unterschied zur Regenbogenpresse spricht sie nicht mehr vom »Tag der Freiheit«, sondern mahnt die Bevölkerung vor Übermut: »Bitte, bitte, bitte seid vorsichtig«, sagte Boris Johnson in einer Videobotschaft am Sonntag. Er rief die Bevölkerung auf, Besonnenheit zu zeigen und nicht zu vergessen, »dass diese Krankheit weiterhin ein Risiko darstellt«.
Ein Blick in die Statistik zeigt, wie groß dieses Risiko ist: Die Pandemie breitet sich in Großbritannien erneut rasant aus, die dritte Welle trifft das Land mit voller Wucht. Derzeit werden täglich über 50 000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet, das ist weltweit der höchste Wert. Auch werden immer mehr Menschen ins Krankenhaus eingeliefert.
Dass Johnson trotz dieser erschreckenden Zahlen darauf besteht, das Land zu öffnen, stößt bei vielen auf Unverständnis, auch in Harrow. Lucy, eine 22-jährige Frau mit einem schwarzen T-Shirt, auf dem fünf tanzende Skelette zu sehen sind, sagt ohne Umschweife: »Das Land ist noch nicht bereit.« Das liege vor allem an der Tatsache, dass erst 53 Prozent der Bevölkerung zwei Impfdosen erhalten haben - und nur die doppelte Impfung schützt laut Studien angemessen vor der Delta-Variante. Sie selbst ist noch nicht geimpft, und zwar weil sie selbst vor einigen Wochen an Covid erkrankte und noch warten muss. »Covid war ziemlich heftig«, sagt sie. Und sie ist nicht die einzige: »So viele meiner Freundinnen und Freunde sind derzeit krank.« Auf jeden Fall werde sie in Innenräumen weiterhin eine Gesichtsmaske tragen. Vor allem hat sie Angst, dass die Fallzahlen weiter exponentiell ansteigen und am Ende ein erneuter Lockdown kommt.
Davor warnen auch unzählige Experten. Immer wieder in den vergangenen Wochen entwarfen Epidemiologen düstere Szenarien. Die Situation in England könnte demnach schnell eskalieren. Wie sich die Abschaffung der Maskenpflicht und der Regeln zum Social Distancing genau auswirken werden, das ist laut Experten noch schwer einzuschätzen. Es komme darauf an, wie viel Selbstverantwortung die Leute tragen werden. Die konfuse Kommunikationsstrategie der Regierung wird nicht helfen: Masken tragen ist zwar nicht vorgeschrieben, wird aber dennoch empfohlen.
Professor Neil Ferguson vom Imperial College in London sagte gegenüber der BBC, es sei »praktisch unvermeidlich«, dass die Öffnung Englands zu 100 000 täglichen Covid-Fällen führen werden, und etwa 1000 Hospitalisierungen. Es sei aber auch denkbar, dass es doppelt so viele werden: »Wir könnten pro Tag 2000 Hospitalisierungen und 200 000 Fälle haben«, sagte Ferguson.
Vergangene Woche publizierte die Fachzeitschrift »The Lancet« einen offenen Brief, unterschrieben von rund 1200 Wissenschaftlern und Gesundheitsmitarbeitern, in dem sie die Strategie Johnsons als »unwissenschaftlich und unethisch« bezeichneten. Es laufe darauf hinaus, eine Art »Herdenimmunität« zu erreichen, indem der ungeimpfte Bevölkerungsteil sich ansteckt - anstatt zu warten, bis das Impfprogramm den Großteil der Menschen immunisiert hat.
Auch in Harrow fragen sich die Leute, weshalb die Regierung trotz all dieser Warnungen an er Öffnung festhält. »Sie hat einfach Angst, einen Rückzieher zu machen«, meint Ed, ein 46-jähriger Musikehrer, der gerade mit Ukulele im Gepäck auf dem Weg zur Arbeit ist. »Das ist doch verrückt. Die Fallzahlen sind jetzt schon so hoch. Meine drei Töchter sind alle von der Schule nach Hause geschickt worden, weil es derzeit so viele Covid-Infektionen gibt.« Gerade jetzt zu öffnen, sei ein Risiko, das sich schlichtweg nicht lohne.
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