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»Persönlichkeit ist Gedächtnis«
Aleksandar Tišma legt mit seiner Autobiografie ein Epochenbuch vor
Mit diesem Buch könnte in Deutschland Aleksandar Tišma wieder- und neu entdeckt werden. Am Beispiel des Lebens und Sterbens in Novi Sad, einer markanten kleinen Stadt in der steppenhaft platten, aber hochkultivierten Vojvodina schuf er ein Werk, das exemplarisch für die Conditio humana ist. Auf die Grausamkeit der Verbrechen antwortete der jüdisch-serbische Schriftsteller mit der Wucht des Zeugnisses.
Als die Shoah immer stärker ins Zentrum der europäischen Erinnerungskulturen rückte und mit dem Zerfall Jugoslawiens der Krieg wieder nach Europa kam, unternahm Tišma immer häufiger - wie er sagt - »Ausflüge auf dem fliegenden Teppich« seiner übersetzten Bücher. Er hatte auch hierzulande volle Säle, und alljährlich im Oktober galt er als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Nach seinem Tod im Jahre 2003 wurde es still um ihn. Mittlerweile ist aber in seiner Wohnung eine Gedenkstätte eingerichtet. Der erste Preisträger des 2019 neu geschaffenen Aleksandar-Tišma-Literaturpreises ist der prägnante Lázlo Darvasi.
Nun also ist posthum Tišmas Autobiografie auf dem deutschen Buchmarkt. Sie ähnelt einem seiner Romane. Als ich ihn kennenlernte, betonte er: »Am Anfang steht bei mir immer eine Figur in ihrer Nacktheit.« Aber diese müsse eine komplexe Geschichte erzählen, fügte er hinzu. Viele seiner Gestalten kommen aus dem Krieg und finden keinen Platz mehr im Leben. Tišma ist kein Kriegsliterat, eher des Nachkrieges, der nicht von Staatsaktionen oder Schlachten berichtet, sondern von Traumatisierten, die den Krieg im Kopf auch im Frieden nicht loswerden.
In seiner Autobiografie verschränkt Tišma das Sterben seiner Mutter mit der des Landes. Sie ist die »nackte Figur« in seinem Epochenbuch. Persönlichkeit bleibt für ihn Gedächtnis: Der Erzähler füttert seine Mama, schiebt einen Löffel Suppe nach dem anderen in den welken Mund der Greisin mit zunehmender Demenz. In den Fernsehern des Pflegeheims flimmern Bilder vom Zerfall Jugoslawiens. Inwieweit die Mutter den neuen Krieg vor der Haustür mitbekommt, weiß der Sohn nicht, aber es scheint lichte Momente zu geben. So will sie einmal von ihm wissen, ob die Kriegführenden ihn in Ruhe lassen.
In scheinbar beiläufigen Episoden erzählt Tišma vom vormaligen Jugoslawien, vom Zufall des Überlebens in Zeiten von Krieg und Völkermord. Wer sich für den Aufstieg und Niedergang des Sozialismus im 20. Jahrhundert interessiert, wird hier fündig. Viele Partisanen der ersten Stunde waren Bauern, da viele Gebildete sich angesichts der deutschen Übermacht aus den Kämpfen heraushielten. Die einfachen Menschen lernten ihren »Marxismus« nicht im weltliterarischen Glanz der Schriften von Karl Marx, sondern in der vulgären Dogmatik einiger Agitatoren. Belgrad hat den Bruch mit Moskau nicht gezielt gewollt. Auch in Jugoslawien wurde zunächst das Bürgertum hart und kurzsichtig angegriffen. »Selbstständigen Handwerkern und Kaufleuten wurde - wie meinem Vater - das Recht auf Arbeit verwehrt, private Arztpraxen und Heilanstalten wurden abgeschafft. All das sollte beweisen, dass die Kritiker von außerhalb im Unrecht waren, denn bei uns herrsche echter Kommunismus«, schreibt Tišma.
Er selbst trägt sich mit dem Gedanken, nach Paris auszureisen. Als das misslingt, arbeitet er als Journalist. Es braucht lange, bis er seine Themen in Büchern gestalten kann. Schonungslos fragt er sich selbst, wie lange er als Zeitungsschreiber Lügen aufs Papier bringen soll. Waren diese nicht nach dem Bruch mit der Sowjetunion zweifache geworden, »weil hinter dem angeblichen Kampf für den Sozialismus die Jagd nach amerikanischem Geld steckte«?
Jugoslawien fand für die Widersprüche des Ostblocks eine Scheinlösung, richtete sich faktisch zwischen zwei Stühlen ein, nutzte dabei geschickt, dass der Westen keine sowjetischen Militärbasen an der Adria haben wollte. Echter Sozialismus war das auch nicht, aber man lebte nicht nur besser als die anderen im Ostblock, sondern dank sicherer Arbeitsplätze auch vorteilhafter als im Westen. »Der Kommunismus, diese Utopie der Gleichheit, wurde durch die fremden Geldgeschenke zu einer Unverbindlichkeit, zu einer Leichtigkeit des unverantwortlichen Seins verwässert.«
Nach dem Untergang der Sowjetunion war damit Schluss. Der Nichtsozialist Tišma erzählt vom aufflammenden aggressiven Nationalismus und davon, wie westliche Staaten mit illegalen Waffenlieferungen und geheimen Ratschlägen den Zerfall des Landes beförderten und Gräben aufrissen, die bis heute ein gemeinsames europäisches Haus verhindern.
Widersprüche durchziehen das Werk von Tišma: Weltgeschichte und Provinz. Aber auch ohne Erotik konnte und wollte er nicht über Geschichte schreiben. Universalität fand er im engen kleinstädtischen Milieu, in dem das Geld immer knapp ist, die Frauen schnell altern und Männer an der Nichtigkeit ihres Status zerbrechen. Erniedrigungen entladen sich in der Familie, in Selbstmorden und Wahnsinnstaten. Soziale und gesellschaftliche Aufstiege sind die Ausnahme, die die Regel der endlosen Dumpfheit bestätigen. Man lebt ohne Protest vor sich hin. Geschichte ist, was Unglück bringt. Zugleich feiert Aleksandar Tišma die religiöse und ethnische Buntheit der Donaustadt Novi Sad.
Aleksandar Tišma: Erinnere dich ewig. Autobiographie. A. d. Serb. v. Mirjana u. Klaus Wittmann. Mit einem Nachw. v. Ilma Rakusa. Schöffling & Co., 312 S., geb., 24 €.
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