Kinder auf der Pirsch

Mit den Waldschulen hat sich eine besondere Form der Erlebnispädagogik etabliert

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 5 Min.

«Ein Fuchs, ein Fuchs!» Ester, Aurelio, Noah, Judith, Maxi, Elea, Maximilian, Richard, Lorenzo und Paul rufen ganz aufgeregt durcheinander. Basti Engel und Theresa Igel von der Rucksack-Waldschule «Mistkäfer» haben sich mit ihrer Schülergruppe weit in den Düppeler Forst in Zehlendorf vorgearbeitet. Bei dem Ferienwaldtag geht es für die Kleinen im Gänsemarsch auf die Pirsch gleich mitten rein in den Wald. Die erste Station: eine Wildtierkamera. «Schauen wir mal, wer hier so vorbeigekommen ist», baut Gruppenleiter Engel die Spannung etwas auf, während er ein Tablet an die Kamera anschließt.

Wenige Klicks später ist klar: Der Fuchs hat in der vergangenen Nacht hier seine Runde gedreht. Die Begeisterung ist groß. Aber genauso freudig wird auch jeder Käfer von den Kindern begrüßt, und all die anderen Spuren, dort und dort und dort. Aurelio hat beispielsweise eine Feder gefunden. Abgenagte Zapfen, kleine und große Löcher in den Bäumen oder Vogelgezwitscher aus den Baumkronen - die Kinder merken schnell, dass der Wald voller Geheimnisse ist. Und zwischendurch gibt es immer wieder Zeit, um rumzutoben, zu spielen, zu klettern, zu bauen. «Das Wichtigste für uns ist, dass die Kinder Freude am Wald haben», sagt Bettina Foerster-Baldenius, Leiterin der Waldschule Zehlendorf, zu «nd».

Die Berliner Waldschulen, das sind neun pädagogische Einrichtungen der Berliner Forsten, die sich zum Ziel gesetzt haben, vor allem Kindern und Jugendlichen den Lebensraum Wald näherzubringen. «Nur, was ich kenne oder was ich mag, das werde ich schützen oder das kann ich auch lieben», betont Waldpädagogin Foerster-Baldenius. Das Angebot für Schulklassen und Gruppen reicht von sogenannten Walderlebnistagen bis zu Abendwanderungen und eben die Ferienwaltage und -wochen. «Der Grundgedanke der Berliner Forsten ist, dass jedes Berliner Grundschulkind - und ich glaube, das sind 600 000 Kinder - in diesem Teil der Schullaufbahn mindestens einmal eine Waldschule besucht haben soll», ergänzt Marc Franusch, Sprecher der Berliner Forsten.

1996 wurde die Waldschule in Zehlendorf gegründet, wenige Jahre nach der ersten Einrichtung dieser Art in Spandau. «Wir haben damals schon gedacht: Die Kinder brauchen mehr Bewegung, die müssen in die Natur», erinnert sich Foerster-Baldenius. «Die Initiative ging 1991 von dem damaligen Leiter der Forsten, Uwe Meierjürgen, aus», sagt Forsten-Sprecher Franusch. «Er hat das Thema entdeckt und wollte es auch für den Ballungsraum Berlin haben.» Als Vorbild diente der Berliner Gruppe ein Waldschulprojekt im schweizerischen Sihlwald nahe Zürich. «Meierjürgen entschied: Da fahren wir hin und schauen uns das an!», so Franusch.

Nach einem entsprechenden Beschluss im Berliner Abgeordnetenhaus wurden dann Anfang der 1990er Jahre die «Grünen Lernorte für Berlin» etabliert. «Dieser Grundansatz, dass die Kinder wirklich direkt in der Natur die Natur wahrnehmen sollen und dass sie das brauchen, der war vor 30 Jahren nicht anders, sagt Foerster-Baldenius. »Ich bin der Überzeugung, dass alle Menschen so eine Verbindung zur Natur brauchen«, so die Pädagogin und diplomierte Försterin.

30 Jahre später gibt es sechs stationäre Waldschulen und zwei Rucksack-Waldschulen, also »mobile« Schulteams ohne festes Drumherum, zudem eine stationäre Waldschule der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald. 75 Prozent der Besucher sind nach Angaben der Berliner Forsten Grundschülerinnen und Grundschüler. Insgesamt erreichen die Waldschulen jährlich etwa 40 000 bis 42 000 Menschen, Tendenz steigend. »Der Bedarf ist grenzlos«, sagt Foerster-Baldenius, »Wir hätten in der Ferienwoche fünfmal so viel Kinder unterbringen können.«

Unweit der S-Bahn-Station Wannsee, nach einem kleinen Spaziergang durch den Wald, trifft man auf die kleine grüne Holzhütte der Zehlendorfer Waldschule. »Gerade wenn die Kinder aus der Stadt kommen, dann stehen sie hier und sehen so riesige Bäume, das ist so überwältigend, wenn sie das nicht gewohnt sind«, berichtet Foerster-Baldenius. »Die müssen dann erst mal ankommen.« In der Hütte erzählen sie und ihre Kolleginnen dann erst einmal Geschichten über den Wald, während die Kinder Federn, Geweihe und Tierpräparate bestaunen können. Und von hier aus geht’s dann weiter in den Düppeler Forst zu mächtigen Baumriesen, auf imposante Lichtungen oder in tiefe Schluchten.

Die pädagogische Arbeit der Walschulen basiert maßgeblich auf den Erfahrungen und Methoden von Joseph Cornell. Der US-Amerikaner ist der bekannteste Spezialist für die Vermittlung von Naturpädagogik. »Bei dem von ihm entwickelten Ansatz des Float- Learnings geht es darum, den Kontakt zu den Kindern herzustellen und über intensive Wahrnehmungsphasen Begeisterung zu erregen«, sagt Foerster-Baldenius. Anfang der 1990er Jahre hat sie ihre ersten naturpädagogischen Kontakte in Boston im US-Bundesstaat Massachusetts gemacht. »Die ganzen waldpädagogischen Übungen und Spiele kommen ja zum großen Teil aus Amerika.«

Spiele und Übungen sind das eine, viel wichtiger ist ihr aber, »Kindern den Freiraum zu geben, selbst zu entdecken«. Gerade während der Pandemie sei das Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen rauszukommen noch viel stärker geworden. »Ich hatte erwartet, dass mehr Klassen auf uns zukommen und fragen, wie sie den Wald nutzen können«, sagt Foerster-Baldenius.

Dabei geht ihr Blick zu der abgestorbenen Ulme auf dem Gelände der Walschule. »Man sieht, dass es dem Wald nicht gut geht, mir persönlich macht das Sorge«, erklärt die Pädagogin. »Mal ebenso mit einer Schulklasse irgendwo in den Wald laufen - das kann man eigentlich gar nicht bringen, weil man nicht weiß, wo man stehenbleiben soll.« Zu groß ist die Gefahr herabstürzender Äste oder umstürzender Bäume. Durch die Dürre der vergangenen Jahre seien viele Gefahrenstellen entstanden. »Die arbeiten wir jetzt ab. Es ist aber auch wichtig, die Sinne offenzuhalten und zu wissen, dass der Wald eine Naturlandschaft ist, die auch ihre eigenen regeln und ihr eigenen Risiken mit sich bringt«, ergänzt Forsten-Sprecher Franusch.

Für die Rucksack-Waldschule droht zumindest an diesem Tag keine Gefahr. Die Kinder bewegen sich nur an Stellen, die verkehrsgesichert sind.

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