Staatsstreich von oben

Tunesiens Präsident Kais Saied hebelt am «Tag der Republik» die Regierung und das Parlament aus

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 3 Min.

Was sich am vergangenen Sonntag innerhalb weniger Stunden auf der Flaniermeile der tunesischen Hauptstadt abspielte, war sogar für die hartgesottenen Mitarbeiter der Cafés zu viel. Hier im Zentrum von Tunis haben sie in den vergangenen zehn Jahren schon alles gesehen: Verhaftung von Oppositionellen während der Ben-Ali-Diktatur, die Revolution von 2011 und Hunderte von Demonstrationen danach. Immer wieder gehen vor allem Menschenrechtsaktivisten gegen Korruption, Vetternwirtschaft, Rassismus oder die prekäre soziale Lage im Herz der Hauptstadt auf die Straße.

Der 25. Juli war der «Tag der Republik». Hunderte Jugendliche gingen angesichts der katastrophalen Lage in den Krankenhäusern gegen die Untätigkeit der Regierung auf die Straße. Wie in den Monaten zuvor begleiteten mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüstete Polizeibeamte die durch die Stadt ziehende Menge, einzelne Organisatoren wurden verhaftet.

Trotz verhängter Ausgangssperre ließen die Sicherheitskräfte die wütende Menge gewähren. Erst vor dem Parlament trieben Tränengaswolken die Menge auseinander. In anderen Städten war die Lage zu dem Zeitpunkt bereits völlig eskaliert. Arbeitslose und Studenten hatten die Parteibüros der moderat islamistischen Ennahda-Partei angezündet, in der Hafenstadt Sfax brannte ein gerade aus Frankreich gelieferter Polizeipanzer aus. «Wir sind die vierte Welle» oder «Degagé» (Tretet ab!), stand auf den Plakaten.

Als sich die Lage am Abend langsam beruhigte, trat Kais Saied vor die Kameras des Staatsfernsehens. Im Beisein mehrerer Polizei- und Armeegeneräle verkündete der Präsident in dem für ihn typischen staatstragenden Tonfall die Absetzung von Regierungschef Hichem Mechichi und eine vierwöchige Schließung des Parlaments. Zudem würde er nicht nur die Immunität der Abgeordneten aufheben, sondern auch von einem Staatsanwalt deren Straftaten untersuchen lassen.

Die Straßen der Hauptstadt waren menschenleer, als der Professor für Staatsrecht seinen Staatsstreich von oben verkündete, den er wegen der Gefahr für die nationale Sicherheit mit Artikel 80 der Verfassung begründete. Sowohl die rechtlich wackelige Begründung für diesen weiteren historischen Einschnitt in Tunesiens nachrevolutionäres Chaos als auch die am Wochenende geltende totale Ausgangssperre war den Bürgern egal. Jubelschreie und Hupkonzerte klangen durch die Straßen, gegen 22 Uhr marschierten Tausende über die Avenue du Bourguiba. Wie vor zehn Jahren standen vielen die Tränen in den Augen, für zwei Stunden kehrte eine Stimmung wie im Februar 2011 zurück.

Der Jurastudent Mohamed Cherif sang mit seinen Freunden die tunesische Nationalhymne, während im Schritttempo vorbeifahrende Armeejeeps von der Menge euphorisch begrüßt wurden. Die Polizeibeamten, die noch am Nachmittag mit Gewalt gegen eine viel kleinere Gruppe von Demonstranten vorgegangen waren, hielten sich bedeckt am Straßenrand. «Es ist ein Staatsstreich, aber das ist o. k.», schreit der 23-jährige Cherif gegen die johlende Menge an. «Alles ist besser als die aktuelle Regierung und die korrupte Elite.»

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Doch auch Stimmen der Angst waren in dem Jubel zu hören. «Kais Saied ist nicht weniger konservativ als viele Islamisten, ein ägyptisches Szenario ist nicht auszuschließen, sagte ein Vertreter der LGBTQ-Szene, »Aber alles ist besser als der jetzige Status quo.«

Am Montagmorgen fuhren Armeejeeps an neuralgischen Punkten der Hauptstadt auf, doch die Lage blieb ruhig. Auch weil sich Vertreter der größten Gewerkschaft UGTT hinter das Vorgehen von Kais Saied stellten. Im Stadtteil Bardo versuchten mehrere Parlamentsabgeordnete in ihre Büros zu gelangen, aber die mit schweren Jeeps aufgefahrene Armee verhinderte weiträumig den Zugang.

Die Lage könnte allerdings schnell eskalieren. Ennahda-Chef Rached Ghannouchi forderte seine Anhänger am Sonntagabend auf, gegen den »Staatsstreich des Präsidenten« auf die Straße zu gehen und das Parlament zu schützen.

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