- Politik
- Sören Pellmann
Leipziger Lebensversicherer
Der Linke Sören Pellmann will sein 2017 überraschend errungenes Direktmandat verteidigen
Im längsten Wohnhaus Europas hängt der Haussegen schief. 335 Meter misst die »Lange Lene« in der Lene-Voigt-Straße im Leipziger Stadtteil Probstheida. Viele der 1600 Bewohner leben schon seit Jahrzehnten in dem Wohnblock, der vor gut einem halben Jahrhundert errichtet wurde. Die Mehrzahl sei nun älter als 65, viele sogar über 80 Jahre, sagt Gothild Lieber. Dem von ihr geleiteten Verein »Alter, Leben und Gesundheit« verdanken viele, dass sie in ihren Wohnungen bleiben können, statt ins Pflegeheim zu ziehen. Vereinsmitarbeiter helfen ihnen im Haushalt, begleiten sie zum Arzt, kochen Mittagessen und betreiben ein behindertengerechtes Bad.
Bald aber könnte damit Schluss sein. Die Stadt Leipzig will Fördergelder streichen und sie an eine Begegnungsstätte in einem anderen Stadtteil geben, weil dort laut Statistik mehr Senioren leben. Ein unbegreiflicher Beschluss, findet Bewohnerin Marianne Röthig: »So entscheidet eine Politik, die nur formal und in Quadraten denkt.« Das Leben aber »ist nicht nur quadratisch«, fügt sie an. »Es wäre besser gewesen, wenn sich die Zuständigen hier mal ein Bild gemacht hätten.«
Sören Pellmann schüttelt den Kopf über die »Entscheidung vom Reißbrett« - die er allerdings nicht für unumstößlich hält. Als Fraktionschef der Linken im Stadtrat weiß er, wie die Politik in der Stadt tickt und wie die Verwaltung womöglich doch noch dazu zu bewegen ist, jenseits von Schubladen und zugunsten des Vereins zu entscheiden. Seine Idee: eine Petition, viele Unterschriften, Allianzen im Stadtrat und ein neuer Beschluss des Stadtparlaments, dem die Verwaltung folgen muss. Die Zeit für den Verein drängt zwar, der Zeitpunkt aber sei günstig, merkt Pellmann an. Am 26. September wird ein neuer Bundestag gewählt: »Bis dahin sind ganz viele zu Zugeständnissen bereit.«
Dass Pellmann an diesem Tag in der »Langen Lene« zu Besuch ist, hat ebenfalls mit der Wahl zu tun. Der 44-jährige Grundschullehrer, der als Sozialpolitiker die Arbeit seines 2017 verstorbenen Vaters Dietmar Pellmann fortsetzt, gehört seit 2017 dem Bundestag an und bewirbt sich im Süden von Leipzig erneut um ein Mandat. In den vier Jahren seit seinem Einzug ins Parlament hat er guten Kontakt zu Vereinen wie in der »Langen Lene« gepflegt und sich um deren Sorgen gekümmert. Er war jeden Monat auf den Marktplätzen in den 31 Ortsteilen seines Wahlkreises anzutreffen: »Glaubwürdig ist man, wenn man nicht nur im Wahlkampf mit den Leuten redet.«
Derzeit aber wirft er sich, getreu seinem Kampagnenmotto »Nah dran«, noch einmal besonders ins Zeug. Seit Wochen klappt er viermal täglich einen Infostand auf; an diesem Morgen zunächst neben einem Brathähnchenstand inmitten von Elfgeschossern im Stadtteil Lößnig. »Darf es ein Kugelschreiber fürs Kreuzworträtsel sein?«, fragt er eine ältere Dame, die überrascht nach der Papiertüte mit Wahlkampfmaterial greift.
Wahlkämpfer und Kümmerer
Der Elan, mit dem Pellmann lange vor den anderen Kandidaten um Wähler wirbt, hat Gründe. Er ist quasi Titelverteidiger im Bundestagswahlkreis 153, nachdem er 2017 sensationell das Direktmandat errungen hatte. Zwar waren seine 25,3 Prozent Erststimmen der zweitniedrigste Wert aller direkt gewählten Abgeordneten; nur der SPD-Frau Eva Högl reichte in Berlin-Mitte ein noch niedrigerer Stimmenanteil zum Sieg. Entscheidend war aber, dass CDU-Mann Thomas Feist 1170 Stimmen und 0,7 Prozentpunkte hinter Pellmann lag. Für ihn war damit nach zwei Legislaturperioden Schluss - Pellmann zog auch zur Überraschung seiner eigenen Genossen in den Bundestag ein.
Vier Jahre später will er das Direktmandat unbedingt verteidigen. Nicht nur, weil es das erste für seine Partei in Sachsen überhaupt und erst das dritte außerhalb von Berlin war, sondern auch, weil es für die parlamentarische Existenz der Linkspartei von entscheidender Bedeutung sein könnte. Die rangiert in Umfragen seit Wochen nicht sehr weit oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Scheitert sie an dieser, bliebe nur eine Hintertür: Holt sie in drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen, darf sie dennoch in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen. Direktmandate seien also gewissermaßen die »Lebensversicherung« der Partei, hieß es Ende Januar in Berlin, wo die Linke 2017 allein vier Wahlkreise gewonnen hatte. Pellmann als Sieger im fünften Stimmbezirk erklärte umgehend, auch er wolle seinen »Beitrag für eine linke Lebensversicherung im Leipziger Süden leisten«.
Dazu lässt sich der Leipziger »Lebensversicherer« vieles einfallen und greift auch zu unorthodoxen Mitteln. Anfang Juni, als Corona-Impfstoff noch ein knappes und begehrtes Gut war, organisierte er gemeinsam mit dem DRK und anderen Partnern etliche Impfaktionen, zunächst in der »Langen Lene«, dann in einem Begegnungszentrum im Plattenbauviertel Grünau, wo er selbst aufwuchs und sich bis heute politisch verwurzelt fühlt. Der Zuspruch war immens - die politische Konkurrenz schäumte, und die Lokalausgabe der »Bild« wetterte in einem ganzseitigen Artikel über »Impftermine als Wahlkampfgeschenk«. In Pellmanns Team rieb man sich die Hände: unbezahlbare Werbung!
Für Kontroversen, diesmal freilich in der eigenen Partei, sorgte auch ein Termin Ende Juni auf dem Leipziger Markt. Für eine »Antikriegskundgebung« anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls von Hitlerdeutschland auf die Sowjetunion hatte Pellmann Sahra Wagenknecht gewinnen können. Sie hatte kurz zuvor Teile der Partei gegen sich aufgebracht, indem sie ihr vorwarf, sich zu viel mit Identitätspolitik zu befassen und Politik für »Lifestyle-Linke« statt für sozial Benachteiligte zu betreiben. Ihr Leipziger Auftritt zog einerseits Hunderte Zuhörer auf den Marktplatz und teils euphorische Reaktionen nach sich. Teile der Basis und der Anhängerschaft empfanden ihn dagegen als Provokation.
In Vierteln wie Connewitz oder der Südvorstand pflegen Politikerinnen wie Jule Nagel über offene Büros enge Kontakte zu Initiativen, die Wagenknecht der »Lifestyle-Linken« zuschlagen würde. Mit Erfolg: Nagel wurde zweimal direkt in den Landtag gewählt. Ihre Arbeit, heißt es bei ihren Anhängern, habe auch zu Pellmanns Erfolg bei der Bundestagswahl beigetragen; Connewitz und die Südvorstadt sind Teile seines Wahlkreises. In sozialen Medien drohte mancher angesichts des Wagenknecht-Auftritts nun mit Stimmentzug.
Im Flügelstreit nicht festgelegt
Pellmann, der vom Stadtmagazin »Kreuzer« einst als »Traditionalist« vorgestellt wurde, wird dem Wagenknecht-Lager zugerechnet, auch wenn er betont, sich im Flügelstreit »nicht festlegen« zu wollen. Die hitzige Debatte um die Ex-Fraktionschefin empfindet er als »nicht hilfreich« und warnt davor, im Wahlkampf auf deren Popularität zu verzichten oder sie auszugrenzen: »Das honorieren unsere Wähler nicht.« Am Wahlstand in Lößnig fragt ein bekennender Linkswähler denn auch verärgert: »Wie geht ihr nur mit Sahra um?!« Erst Pellmanns Versicherung, er pflege ein gutes Verhältnis zur Linke-Ikone, besänftigt ihn. Später betont Pellmann, er habe »auch manches zu kritisieren an Sahra«. Sie bemühe sich aber um Wähler, die »wankelmütig« seien und »als Ausrutscher« AfD gewählt hätten: »Die können wir ja nicht einfach abschreiben.«
Auch Pellmann bemüht sich um Antworten auf Probleme, die das Potenzial haben, von Rechten instrumentalisiert zu werden. In Lößnig etwa klagt ein Anwohner darüber, dass viele Wohnungen in den umliegenden Plattenbauten genutzt werden, um Flüchtlingsfamilien dezentral unterzubringen: »In unserem Aufgang betrifft das schon jede dritte Wohnung.« Das verschärfe die Knappheit an bezahlbarem Wohnraum, treibe die Preise nach oben - »und am Ende den Rechten die Wähler in die Arme«, sagt er. Pellmann plädiert dafür, Zuwanderer gleichmäßiger in der Stadt zu verteilen und auch in Vierteln wie Plagwitz und der Südvorstand unterzubringen, wo der »Integrationswille« der Anwohner größer sei - freilich auch die Wohnungen deutlich teurer.
Vielleicht gelingt es Pellmann auf diese Weise, noch den einen oder anderen weiteren Wähler vom Kreuz für die Linke und sich selbst zu überzeugen. Zudem hofft er, dass der Frieden in der Partei hält. Er weiß, dass auch sein Kampf um das Direktmandat nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Linke im Bund nicht völlig im Stimmungstief versinkt. 2017 lag sein Ergebnis zwar um immerhin 9,1 Punkte über den 16,1 Prozent der Linken in Sachsen und war fast dreimal so hoch wie das der Bundespartei. »Aber einen schlechten Bundestrend hält man nur bedingt auf«, sagt er.
Klar ist, dass es wieder ein enges Rennen wird. Die Grünen, die in Leipzig mit Paula Piechotta ihre sächsische Spitzenkandidatin ins Rennen schicken, rechnen sich Chancen aus. Pellmann hält die junge CDU-Bewerberin Jessica Heller für die stärkere Konkurrentin, hofft aber, dass sie durch interne Querelen bei der Nominierung und eine erstarkte FDP geschwächt wird. Er selbst wird in den verbleibenden zwei Monaten noch viele Stunden an Infoständen verbringen - und setzt weiter auf die Hilfe prominenter Genossinnen. Vergangenen Freitag war Ex-Bundeschefin Katja Kipping mit Pellmann in Connewitz und sprach über »Offenheit, Vielfalt und Empowerment«. Auch das, so hoffen sie in Leipzig, ist ein kleiner Beitrag für die »Lebensversicherung«.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.