Ein Zombie im Zarenreich
Für das Unklare, Unerwartete und die Beatles: »Gogols Disko« des estnischen Autors Paavo Matsin
Seit das neue russische Zarenreich die baltischen Staaten annektiert hat, fährt in der estnischen Kleinstadt Viljandi zum ersten Mal eine Straßenbahn. Sehr zur Freude von Taschendieb Konstantin Opiatowitsch, denn die Fahrgäste in der Bahn bestiehlt er besonders gern. Als er aber eines Morgens einem merkwürdig gekleideten und modrig riechenden Mann in die Tasche langt, merkt er nicht sofort, dass er es mit einem Untoten zu tun hat - und zwar mit keinem Geringeren als dem wiederauferstandenen großen russischen Schriftsteller und Dichter Nikolai Gogol.
So beginnt der Roman »Gogols Disko« des estnischen Schriftstellers Paavo Matsin. Es ist kein gewöhnlicher Roman, sondern eine abgedrehte Achterbahnfahrt voller albtraumhafter Szenen und skurriler Figuren. In Estland sind Matsins experimentelle Romane Kult. Jetzt ist mit »Gogols Disko« erstmals eines seiner Werke auf Deutsch erschienen. Übersetzer Maximilian Murmann hat sich mit Erfolg durch die vielen Wortwitze und Anspielungen gekämpft, und das beigefügte Glossar hilft bei den größten Verwirrungen. Es wird dennoch nicht vollständig klar, was in diesem Roman eigentlich genau passiert und welchen Sinn das Ganze hat. Doch das Unklare, Unerwartete und vor allem Unerklärliche sind Prinzipien von »Gogols Disko«.
Es ist ein Buch, das sich nicht in Kategorien pressen lässt. Eine klassische Dystopie ist es schon mal nicht. Es geht zwar um eine Zukunft, die alles andere als rosig aussieht: Es hat Krieg in Mitteleuropa gegeben, der russische Zar hat mehrere europäische Staaten erobert und eine Kultur der Repression und Zensur etabliert. Im ehemaligen Estland ist es den Einwohner*innen verboten, estnische Musik zu hören oder Bücher auf Estnisch zu lesen.
Aber all das wird mit einem Augenzwinkern erzählt und bildet nur einen Teil des skurrilen Settings des Romans. »Gogols Disko« spart zwar nicht an politischen Anspielungen und Kritik, aber einen plakativ mahnenden Zeigefinger sucht man zum Glück vergeblich.
Die Zukunft, die Matsin beschreibt, scheint seltsam aus der Zeit gefallen. Vieles, nicht nur die zahlreichen Anspielungen auf die Beatles, erinnert eher an die 60er und die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. So besitzt der Antiquar Buchard Lenz zwar einen Laptop, gleichzeitig beschwert er sich über technische Neuerungen wie die »Tonbandgeräte und Kassettenrekorder, die angetreten waren, den Plattenspieler zu verdrängen«. Lenz gehört wie der Taschendieb Opiatowitsch zu einer Gruppe von Gaunern und Bohemiens in Viljandi, die zwar kein Geld haben, aber dafür umso mehr Leidenschaft: Für Bücher, verquere philosophische Theorien und die friedensstiftende Kraft des Rock’n’Roll.
Von letzterer ist Wasja Koljugin ganz besonders angetan. Er ist »Beatleomane« und plant, einen zehnstöckigen Beatles-Tempel zu bauen. Bei der Bezirksverwaltung ist er schon mehrmals mit der Forderung abgeblitzt, eine Straße nach John Lennon zu benennen. Koljugin ist nur ein Beispiel für die mit viel Witz beschriebenen grotesken Figuren des Romans, von denen es allerdings so viele gibt, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Im Antiquariat treffen sie alle regelmäßig aufeinander. Buchard Lenz veranstaltet dort »esoterische Abende« - merkwürdige Männerrunden, wo etwas befremdliche Theorien ausgebreitet werden. Philosophie, Mystik und die Beatles werden bemüht, um das Wesen der Liebe zu entschlüsseln. Bevor die Figuren und die Leser*innen die Chance haben, dahinterzukommen, was das genau soll, wird die Diskussion abrupt von einer Zwischenfrage unterbrochen: »Herrschaften, ich frage euch, wurdet ihr jemals in einem Restaurant mit Vinaigrette beworfen?«
Ein solches Nebeneinander von etwas verschwurbelter Tiefsinnigkeit und Alltagskomik zieht sich durch »Gogols Disko«. Dass der Autor Matsin sich für Religion, Mystik und Esoterik interessiert, merkt man seinem Roman deutlich an, der nicht nur voller Verweise auf Literatur, Zeitgeschichte und Popkultur steckt, sondern auch mit dem Übersinnlichen spielt.
Nicht jede*r Leser*in wird Spaß dabei haben, sich durch dieses verworrene Netz an Bezügen zu kämpfen. Aber wer Lust hat, sich auf diesen komplexen Text einzulassen, wird mit einem Spektakel belohnt, das sich in Sachen absurder Komik immer wieder selbst übertrifft. Die deutlichste unter den vielen Anspielungen des Romans ist natürlich Gogol selbst, dessen rätselhafte Rückkehr von den Toten das beschauliche Leben rund um Lenz’ Antiquariat ziemlich durcheinanderbringt. Warum der in Moskau begrabene große russische Autor ausgerechnet das 800 Kilometer entfernte Viljandi zum Ort seiner Wiederauferstehung gewählt hat, bleibt unklar. Aber der Stil des Romans ist auch eine Hommage an Gogols düstere Fantastik und seine ebenfalls skurrilen, überzeichneten Figuren.
Der Antiquar Lenz ist jedenfalls begeistert, einer literarischen Größe zu begegnen, und empfängt Gogol freudig, als Opiatowitsch ihn seinen Freunden präsentiert: »Nikolai Wassiljewitsch, wir, die Bürger dieser kleinen Stadt, haben nun die einzigartige Gelegenheit, Sie, einen Klassiker der alten Schule aus erster Hand zu befragen, wie es im Jenseits, in der okkulten Welt zugeht. Und wie schätzen Sie das Wesen der Liebe ein?« Doch die Unterhaltung dauert nicht lange, denn Gogol, der schon seit seinem Tod im Jahr 1852 keine Nahrung mehr zu sich genommen hat, verträgt das Essen nicht und eilt geradewegs zur Toilette.
So bleibt Zeit, sich zu beratschlagen: Was tun mit einem untoten Klassiker? Die Freunde einigen sich darauf, erst mal abzuwarten und auf keinen Fall die Staatsgewalt zu informieren. Bis ihnen eine konkrete Idee kommt, wollen sie den Dichter auf der Toilette einsperren: »Katerina wird ihm so lange Tagesgerichte durch das Fenster reichen, bis wir zu einer Lösung gelangt sind.« Opiatowitsch übernimmt die erste Nachtwache, doch die verläuft anders als geplant. Ein groteskes Szenario voller Traumszenen, Visionen und absurder Begebenheiten entfesselt sich.
Je länger Gogol unter den Lebenden wandelt, desto weniger lässt sich noch von einem normalen Leben in Viljandi sprechen. Nach und nach gerät alles außer Kontrolle. Bald sind es nicht mehr nur Opiatowitsch, Lenz und ihre Freunde, die von Visionen geplagt werden, sondern die ganze Stadt und vielleicht das ganze Land werden von einer Welle ergriffen, bei der man sich nicht sicher ist - ist es die Veränderung oder der Wahnsinn?
Paavo Matsin: Gogols Disko. A. d. Estn. v.
Maximilian Murmann. Homunculus, 176 S.,
geb., 21 €.
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