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Der Schritt in eine neue Richtung
Der Rückzug von Turnerin Simone Biles lenkt den Fokus auf ein Tabu: die mentale Gesundheit der Athleten
Die Schockwelle, die am Dienstag aus Tokio rund um die Turnwelt ging und der am Mittwoch eine zweite folgen sollte, überraschte die Auslöserin offenbar am wenigsten. Simone Biles, der größte Star des Kunstturnens, hatte sich zunächst mitten im Teamwettkampf zurückgezogen. Einen Tag später sagte sie auch das Mehrkampffinale im Einzel vom Donnerstag ab. »Ich habe nicht das Selbstvertrauen wie früher. Ich bin nervöser, wenn ich turne, und ich habe weniger Spaß«, begründete Biles ihren Schritt nicht mit einer physischen, wohl aber mit einer psychischen Verletzung. Die 24-Jährige sagte zudem, sie habe damit gerechnet, dass dieser Moment irgendwann kommt. »Aber es nervt natürlich, dass es ausgerechnet bei den Olympischen Spielen passiert.«
Welche Bedeutung ihre Entscheidung besonders in ihrer US-Heimat hat, zeigten die vielen Reaktionen, die bis ins Weiße Haus reichten. Regierungssprecherin Jen Psaki twitterte: »Simone Biles verdient Dankbarkeit und Unterstützung.« Auch Athleten aus aller Welt solidarisierten sich mit Biles, gratulierten ihr zu dem Rückzug, der die psychische Gesundheit von Hochleistungssportlern - üblicherweise ein Tabuthema - erneut ins Licht der Aufmerksamkeit zieht.
»Ich muss an meine mentale Gesundheit denken. Diese Spiele sind sehr stressig. Es war eine lange Woche, aber auch ein langer olympischer Prozess, ein langes Coronajahr. Wir sind einfach zu sehr gestresst, dabei sollten wir hier Spaß haben. Doch manchmal ist das eben nicht so«, ließ Biles zumindest einen kleinen Einblick in ihre Gefühlswelt zu.
Dabei kann man sich sicher sein, dass nicht nur das vergangene Jahr an ihrer Psyche genagt hat. Die Mutter war schon vor ihrer Geburt drogensüchtig, also wuchs Simone Biles zunächst in einer Pflegefamilie auf, dann folgte die Adoption durch den Großvater. Als sie ihren Ausweg im Turnen zu finden geglaubt hatte, folgte ein weiteres Martyrium. Biles machte 2018 öffentlich, dass sie wie viele andere Sportlerinnen als Teenager durch Teamarzt Larry Nassar sexuell missbraucht worden war. Der Täter wurde mittlerweile zu 175 Jahren Gefängnis verurteilt. Von den Opfern ist nur noch Biles aktiv. Auch deshalb wollte sie nach vier Olympiasiegen 2016 in Rio nun noch einmal zu den Spielen. »Hätte ich nicht weitergeturnt, wäre dieser Skandal zu schnell beiseitegeschoben worden«, war sich Biles sicher.
Bereits in der Qualifikation schien der Druck, der auf ihr lastet, aber zu groß zu werden. »Es war kein einfacher Tag. Ich fühle mich, als läge das Gewicht der ganzen Welt auf mir. Olympia ist kein Witz!«, schrieb sie auf Instagram, doch viele sahen weiter nur das sportliche Ergebnis. Obwohl Biles viele ungewohnte Unsicherheiten zeigte, war sie die Qualifikationsbeste, erreichte alle Finals. Sie hätte sich trotz allem wohl einige Goldmedaillen abholen können, »doch die mentale Gesundheit muss an die erste Stelle. Sonst genießt man seinen Sport nicht mehr. Auch mal einen großen Wettkampf auszusetzen, zeigt doch, was für ein starker Sportler und ein starker Mensch man ist. Das ist manchmal viel schwieriger, als sich durchzukämpfen«, sagte Biles am Dienstagabend.
Dabei gilt als Sportheld, wer Schmerzen ignoriert, am besten auch nie darüber redet. Turner Andreas Toba wurde als deutscher Vorzeigeathlet von Rio hochgejubelt, weil er mit Kreuzbandriss noch einmal ans Gerät ging. Biles entschied sich nun ganz bewusst für den Weg in die andere Richtung. »Ihr Mut zeigt, warum sie ein Vorbild für so viele ist«, schrieb ihr Verband USA Gymnastics, der sich dennoch fragen muss, ob er eine Mitschuld am Leid seiner Athletin trägt. »Diese Spiele wollte ich für mich haben. Doch ich kam hierher und dachte, dass ich es weiter für andere Leute mache. Was ich liebe, ist mir genommen worden, um anderen Menschen zu gefallen«, sagte Biles.
Spaniens Basketballer Pau Gasol, der IOC-Athletensprecher werden will, forderte ein generelles Umdenken, nachdem sich vor wenigen Monaten auch Japans Tennisstar Naomi Osaka wegen psychischer Probleme zurückgezogen hatte: »Die mentale Gesundheit muss immer Priorität haben. Wir brauchen eine Sportwelt, die das emotionale Wohlbefinden in den Fokus rückt.« Der Rückzug von Simone Biles könnte dafür der Auslöser sein.
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