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Türkische Exilanten in Gefahr
Antwort auf Linke-Anfrage: Regierung in Ankara führt »Feindeslisten« über hier lebende Oppositionelle
»Mir ist also schon lange klar, dass ich auf einer Feindesliste der AKP stehe«, sagt der oppositionelle türkische Journalist Erk Acarer. Er war Mitte Juli vor seiner Wohnung in seinem Berliner Exil von mehreren Männern angegriffen worden. Er werde bald nicht mehr schreiben, drohten die Männer auf Türkisch. Acarer trug von dem Überfall nur leichte Verletzungen davon, steht jetzt aber unter Polizeischutz. Wie Acarer stehen auch andere türkische und kurdische Oppositionelle auf Feindeslisten türkischer Nationalist*innen. Manche sprechen von Todeslisten.
Auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Helin Evrim Sommer (Linke) hat die Bundesregierung jetzt erstmals bestätigt, dass ihr solche Feindeslisten bekannt sind, auf denen Gegner*innen des Regimes in Ankara stehen. »Seit dem Putschversuch 2016 ist das Terrornetzwerk von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland aktiver denn je«, sagte Sommer gegenüber »nd«. Mit systematisch erstellten »Todeslisten« solle »ein Exempel an oppositionellen Exilanten statuiert werden«. Die Abgeordnete kritisiert, dass die Bundesregierung ihre Verantwortung auf die Länder abschiebt.
In der Antwort des Bundesinnenministeriums heißt es: »Die Prüfung, ob und inwieweit Personengruppen oder einzelne Personen konkret gefährdet sind und daher bestimmte polizeiliche Schutzmaßnahmen erforderlich werden, obliegt grundsätzlich den Ländern.« Sommer betont dagegen mit Blick auf den Fall von Erk Acarer, die Bundesregierung könne die Verantwortung für den Schutz der Bürger*innen nicht allein den Ländern überlassen». Sie kritisiert, die Bundesregierung knicke vor dem türkischen Regime ein und verweist auf den Flüchtlingsdeal, mit dem Erdoğan Deutschland und die EU erpressen könne.
Sommer erinnert daran, dass auch der kurdische Exilpolitiker Hasip Kaplan, der Musiker Ferhat Tunc, die Journalisten Can Dündar, Celal Baslangic und Hayko Bagdat sowie viele andere von den zuständigen Landeskriminalämtern darüber informiert wurden, dass sie in Gefahr sind.
Auch der in Augsburg lebende türkische Linke Samir Baydar wurde Opfer von Drohungen und eines Mordanschlags türkischer Nationalisten («nd» berichtete). Statt unterstützt und geschützt zu werden, sah er sich von der Polizei wie ein Beschuldigter behandelt: «Die Staatsschutzpolizei Augsburg hat, statt ernsthafte Ermittlungen anzustellen, die Gelegenheit genutzt, mich auf meiner Arbeitsstelle aufzusuchen und gezielt meine politischen Zeitschriften durchsucht», erklärt Baydar gegenüber «nd. Als linker Aktivist sei er schon lange im Visier auch der deutschen Ermittler. »Weil ich das alles online kritisiert habe, wurde ich von der Polizei wegen übler Nachrede angezeigt und vom Amtsgericht Augsburg zu einer Geldstrafe von 3600 Euro verurteilt«, berichtet Baydar. Dabei seien Teile eines Facebook-Beitrages »selektiv und völlig aus dem Kontext gerissen zitiert« worden. Wie Baydar sehen sich viele türkische und kurdische Aktivist*innen, die auf den Todeslisten der türkischen Nationalisten stehen, auch in Deutschland politischer Verfolgung ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren schon lange, dass die deutsche Justiz mit türkischen Repressionsorganen kooperiert, wenn es um die Verfolgung von linken Oppositionellen geht.
Neonazis legen »Feindeslisten« an - Rechtsextremisten haben private Daten von 1000 Berlinern erfasst
Der türkische Journalist Can Dündar, der ebenfalls auf einer Feindesliste steht, hat unterdessen mit der Ausstellung »Still Strong«, die aktuell kostenlos in den Räumen des Berliner Gorki Theaters gezeigt wird, ein sehenswertes Solidaritätsprojekt entwickelt.
Dort werden neben den vielen bedrohten linksliberalen Kritiker*innen des Erdoğan-Regimes auch die Musiker*innen der linken Band Grup Yorum gewürdigt. Sie sind seit Ende der 1980er Jahre Repressalien durch unterschiedliche türkische Regierungen ausgesetzt. Im vergangenen Jahr starben zwei Musiker*innen der Band im Hungerstreik in türkischer Isolationshaft. In Deutschland werden Auftritte der Band immer wieder von der Polizei aufgelöst.
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