»Erste Pandemie, die durch Impfstoffe beendet wird«

Der Epidemiologe Klaus Stöhr über den Weg von der Pandemie zur Endemie, die Rolle der Impfungen und Kritik am bisherigen Krisenmanagement

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 11 Min.

Wie erleben Sie die derzeitige Pandemie?

Ich habe nie an den Spruch geglaubt, dass die Menschen nur eines aus der Vergangenheit lernen - nämlich: dass sie nichts daraus lernen. Leider bewahrheitet sich das aber jetzt in großem Maße. Viele der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Pandemien von 1957 und 1968 wurden in der gegenwärtigen Pandemiebekämpfung nicht berücksichtigt, in Deutschland und weltweit. Schon zu Beginn der Pandemie hätte man auf Grundlage jener Erkenntnisse eine auf die gesamte Dauer und den unweigerlichen, feststehenden Endzustand ausgerichtete Strategie entwickeln müssen. Das ist in vielen Ländern nicht geschehen.

Im Interview

Prof. Dr. Klaus Stöhr, geboren 1959, studierte und promovierte zur Epidemiologie und Veterinärmedizin an der Universität Leipzig und war danach Abteilungsleiter für Infektionskrankheiten am späteren Bundesinstitut für Viruskrankheiten. Ab 1990 arbeitete er für die WHO im Bereich Übertragbare Krankheiten. Er koordinierte unter anderem die Forschungsaktivitäten gegen die Sars-Pandemie 2003 und war Leiter des Globalen Influenza- und Pandemievorbereitungsprogramms der WHO. Von 2007 bis 2017 war er bei dem Schweizer Pharmakonzern Novartis in der Impfstoffentwicklung tätig. Er hat sich als Epidemiologe immer wieder zu den Maßnahmen gegen die Coronapandemie geäußert und engagiert sich zudem in der Initiative www.covid-strategie.de
 

Das Robert-Koch-Institut (RKI) will an der Inzidenz als Leitindikator festhalten. Inzwischen sind über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung komplett geimpft. Wie sinnvoll ist dann noch die Inzidenz?

Die Meldeinzidenz als alleiniger Parameter war schon zu Anfang Pandemie suboptimal. Pandemiebekämpfung heißt immer, sich auf die Krankheitslast zu konzentrieren. Das bedeutet, sich auf die Bevölkerungsgruppen zu konzentrieren, die schwer betroffen sein können. Das sind, wie auch 1957 und 1968, vor allem die Älteren. Die über 50-Jährigen tragen 99 Prozent der Sterbelast. Deswegen hätte man von Beginn an eine altersgruppenspezifische Inzidenz einführen müssen, um sich auch differenziert auf die Vulnerablen zu konzentrieren, ohne die anderen aus dem Auge zu verlieren. Stattdessen hat man eine »Gießkanneninzidenz« entwickelt und wenig Unterschiede in der Bekämpfung zwischen einem asymptomatischen Kind und über 90-Jährigen gemacht. Nun hat sich die Meldeinzidenz komplett von der Krankheitslast abgelöst - und hat als alleiniger Parameter für die Auslösung von Bekämpfungsszenarien ausgedient.

Die Gruppe, die das größte Risiko trägt schwer zu erkranken, ist zunehmend geschützt. Das sind die über 50-Jährigen. Auf der einen Seite werden sich im Herbst also viele junge Menschen infizieren, aber häufig ohne Symptome oder nur mit leichtem Verlauf. Auf der anderen Seite werden die Intensivstationen zwar wie immer unter Druck arbeiten, aber die Covid-19-Hospitalisierungs- und Sterberaten werden nicht vergleichbar mit denen von 2020 sein. Die Meldeinzidenz gibt über dieses auseinanderlaufende Geschehen keine Auskunft. Will man zum Beispiel im Herbst wegen 50 asymptomatisch positiv getesteten Jugendliche in einer Woche in einer Stadt wie Koblenz mit 100 000 Einwohnern wieder die Geschäfte schließen? Man wird eine Seuche nicht effizient bekämpfen, ohne spezifisch und differenziert vorzugehen. Es sei denn, man hat Geld ohne Ende.

Welche Rolle spielen Virusvarianten und Mutationen, wie beispielsweise die mutmaßlich ansteckendere Delta-Variante?

Virusvarianten entstehen immer. Es gibt Tausende von Sars-Cov-2-Varianten, nur wenige davon erlangen regionale Bedeutung und nur sehr wenige globale. Wir müssen auch hier die Schwere der Erkrankungen im Blick behalten, die Hospitalisierungen. Sars-CoV-2 adaptiert sich jetzt besser an den Menschen. Für Fachfremde ist das erschreckend und die Varianten werden dann schnell zu »Turboviren« und sie reden eine neue Pandemie herbei. Die Maßnahmen zur Bekämpfung ändern sich aber nicht. Selbst wenn gegenwärtig ein Impfstoff gegen eine bestimmte Variante »nur« noch zu 70 oder 80 Prozent Schutzwirkung hätte, konnte man von solchen Zahlen bisher nur träumen. Auf jeden Fall wird es bald, vielleicht schon im nächsten Jahr, notwendig werden, die Impfstoffe anzupassen. Die Idee, Grenzschließungen könnten die Ausbreitung von Varianten verhindern oder signifikant verzögern, ist völlig absurd und erinnert mich an »No Covid«. Abriegelung hat bereits in Wuhan im vergangenen Jahr nicht funktioniert. Und nach Delta werden Epsilon und Zeta und weitere kommen.

Könnte die vom RKI prognostizierte »vierte Welle« keine pandemische mehr, sondern eine endemische sein, wie auch der Virologe Christian Drosten kürzlich sagte?

Jeder der sich ein bisschen mit Atemwegserkrankungen beschäftigt oder noch an sein Medizinstudium erinnert, weiß doch, dass das Ende der Pandemie am Anfang bereits feststeht: die dauerhafte Zirkulation des Erregers. Wie gut ist die Krisenkommunikation in den letzten 18 Monaten gewesen, dass das noch immer nicht allen Menschen klar ist, was am ersten Tag der Pandemie feststand? Das Virus wird bleiben, es wird endemisch, es wird zirkulieren, im Winter stärker, im Sommer auf der nördlichen Hemisphäre kaum nachweisbar. Und jeder wird sich nachfolgend infizieren, sogar mehrfach. Die Erstinfektion verläuft schwerer, besonders in den höheren Altersgruppen; die Reinfektionen in den Folgejahren viel schwächer, jedoch sind Personen mit Vorerkrankungen und Ältere stärker gefährdet. Die Kinder infizieren sich alle bis ungefähr zum 12 bis 14 Lebensjahr natürlich, meistens sehr mild. So läuft das bei der Influenza, Metapneumoviren, Reoviren, Rhinoviren, Parainfluenza oder RSV. Diese sogenannten endemischen Viren erzeugen eine unsterile Immunität. Die schützt zwar vor schweren Verläufen aber nicht vor Infektion und Ausscheidung. Impfstoffe gibt es außer bei der Influenza für die Vulnerablen nicht; jedoch hoffentlich bald für RSV bei Kindern.

Sterile und unsterile Immunität, Herdenimmunität - könnten Sie das erklären?

Sterile Immunität bedeutet, dass man nach Impfung oder Infektion sich nicht wieder reinfizieren und erkranken kann. Das tritt nur für ganz wenigen Erreger zu, zum Beispiel Masern, Tetanus und Pocken. Bei den meisten Viren, auch den Coronaviren, ist das nicht der Fall. Der Begriff der Herdenimmunität ist theoretisch und kommt aus der Tiermedizin: wenn 66 Prozent einer statischen Gruppe geimpft oder immun sind, haben die restlichen kein empfängliches Individuum mehr in der Nähe. Das Virus trocknet aus und verschwindet. Das setzt aber voraus, dass die Impfung oder Infektion eine sterile Immunität erzeugt. Das ist bei Coronaviren nicht der Fall, denn auch Genesene und Geimpfte können noch etwas Virus ausscheiden und sich wieder infizieren. Herdenimmunität kann es bei endemischen Viren nicht geben. Der Begriff wurde in der jetzigen Pandemie von Anfang an falsch verwendet.

Wie schätzen Sie die Sars-CoV-2-Impfstoffe ein, wie wirken sie - und wie gut?

Impfungen sind das beste Instrument, um das Risiko einer Infektion zu reduzieren. Sie helfen die Erstinfektion abzumildern und beschleunigen das Ende der Pandemie. Ausrotten konnte man aber bis dato nur ein Virus: Pocken. Ich habe viel publiziert über pandemische Impfstoffe, den limitierten Zugang dazu und über eine gerechte Verteilung während der Pandemie. Es ist erstaunlich, nun bei der ersten Pandemie seit Menschengedenken dabei zu sein, die nicht durch das Virus, sondern durch Impfstoffe beendet wird; zu mindestens in einigen Ländern. Ohne mRNA-Impfstoffe wäre das undenkbar gewesen.

Für wen ist es sinnvoll, sich impfen zu lassen? Diskutiert wird, ob man Kindern ab 12 Jahren eine Impfung empfehlen sollte.

Wichtig ist die Impfung jetzt für alle, die schwer erkranken können, also die erwähnten über 50-Jährigen und Vorerkrankte. Der größte Nutzen wird bei den Älteren erreicht, deswegen war es richtig, bei Impfstoffmangel bei ihnen zu beginnen. Auch für die über 18-Jährigen gibt es eine Impfempfehlung, weil der Nutzen die Risiken übersteigt. Das ist jedoch leider bei den jüngeren Kindern und Jugendlichen nicht oder noch nicht der Fall, dafür gibt es einen eindeutigen wissenschaftlichen Konsens. Übrigens durch die einzige, unabhängige und mandatierte Expertengruppe, die eine Risikobewertung nach einem strukturierten Prozess vornimmt: die Ständige Impfkommission (Stiko).

Bei der Diskussion man muss sich auch die Zukunft vor Augen halten: eine Impfempfehlung wird es ab 2022, so meine Vorhersage, nur noch für die über 60-Jährigen und Vulnerable geben. Die anderen können sich impfen lassen, werden das aber sicher genau wie bei der Influenza auch individuell zahlen müssen. Die Frage nach der Sars-CoV-2 Impfung für Kinder wird schon im nächsten Jahr keine Rolle mehr spielen. Jedes Jahr werden 100 Millionen Kinder weltweit geboren, die werden sich bis zum Alter von 12 Jahren natürlich infizieren und immunisieren. Für die wirklich schweren Kindererkrankungen wie Diphtherie, Keuchhusten, Tetanus, H-Influenzae, Hep-B, Poliomyelitis, Masern, Mumps, Röteln gibt es gute Impfstoffe; leider noch nicht ausreichend für alle Länder der Welt.

Nun wird Druck auf Ungeimpfte gemacht, auch eine Impfpflicht für bestimmte Berufe wird diskutiert. Wie sehen Sie das?

Eingeschränkte Grundrechte müssen schnellstmöglich wieder zurückgegeben werden - an alle. Nachdem jeder ein Impfangebot bekommen hat, wird man nur noch wenig oder keine Maßnahmen mehr finden, die noch verhältnismäßig, angemessen und notwendig sind. Ich finde es wichtig, dass man jetzt aufklärt. Man muss die Impfskeptiker unter den über 50-Jährigen besser erreichen und informieren. Das betrifft die Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe, aber auch die Auswirkungen einer Erkrankung; man müsste für diese Gruppe auch niedrigschwellige Angebote schaffen. Eine Impfpflicht halte ich für kontraindiziert. Man muss verstehen, was die Impfskepsis auslöst, das unterscheidet sich bei unterschiedlichen sozialen, Bevölkerungs- und Altersgruppen. Dann muss man spezifische Informationsangebote machen.

In den reichen Ländern scheint es schon zu viel Impfstoff zu geben, in den ärmeren ist jedoch weiterhin ein großer Mangel.

Meine Vorhersage war, dass das Überangebot in den wenigen Ländern mit Impfstoff wie USA, Kanada, Europa im Juli bis August dieses Jahres erreicht sein wird. Das ist eingetreten. Nun wird der überschüssige Impfstoff bald mit großer Geste wie Warmbier mit Semmeln den Entwicklungsländer angeboten. Das kommt aber vielfach zu spät und hat dort keinen großen Einfluss mehr, die haben die schlimmen Ausbrüche schon erlebt. Schon in den 2000er Jahren war meine Einschätzung, dass man bei Pandemien künftig zwischen den Ländern mit und denen ohne Impfstoff unterscheiden wird. Die reichen Länder haben den Impfstoff vorgekauft und gehortet: Kanada mit acht Dosen pro Kopf, die USA und EU mit vier. Dazu kommen logistische Herausforderungen in den ärmeren Ländern bei Kühlkette, Lagerung und Verteilung von Impfstoff. Dort wird das Virus die Pandemie beenden, wie bei den Pandemien vorher auch. Ausschließlich die reichen Länder werden durch die Impfungen profitieren mit einer Beschleunigung des Endes der Pandemie.

Die Testpflicht für Reiserückkehrer kommt, es bleiben die Massentests in den Schulen. Für wie sinnvoll halten Sie das?

Die anlasslose Massentestung von asymptomatischen Schulkindern bei so niedriger Inzidenz ist eine Verschwendung von Steuergeldern und weder sinnvoll noch verhältnismäßig. In Hessen hat man, wie die dortige Staatskanzlei mitteilte, pro Woche 1,1 Millionen Tests gemacht, positiv waren 34, das sind weniger als 0,01 Prozent. Bei sechs Euro pro Test sind das 176 000 Euro, um ein asymptomatisches Kind aufzufinden. Das ist mehr Geld, als Krebsbehandlungen kosten. Im Vergleich: Eine Gesundheitsintervention wird international als sinnvoll erachtet, wenn mit 50 000 US-Dollar ein gesundes Lebensjahr erreicht werden kann. Eine pauschale Testpflicht für Reiserückkehrer ohne Berücksichtigung der Situation in den Urlaubsländern ist auch nicht alternativlos.

Wie ist es mit »Long Covid« bei Kindern?

Das Phänomen muss weiterhin gut beobachtet werden; leider werden in der Mehrzahl Ergebnisse von Beobachtungsstudien in der Kommunikation verwendet. Die wenigen kontrollierten Studien, zum Beispiel eine aus der Schweiz und Deutschland, würden darauf hindeuten, dass die Long-Covid-Symptome offensichtlich bei Personen mit und ohne Covid-19 gleich häufig vorkommen.

Wie bewerten Sie die in Deutschland ergriffenen Maßnahmen?

Bei der Zahl der Erkrankungen und Todesfälle steht Deutschland recht gut da; nicht zuletzt durch die gewaltigen Geldströme, die in die Bekämpfung mehr oder minder wirksam geflossen sind. Da müssen Sie nur in den Nachtragsbundeshaushalt schauen. Allerdings hätte man es noch besser machen können. 40 Prozent der Sterbefälle waren in Alten- und Pflegeheimen. Auf die Vulnerablen hätte man sich mehr konzentrieren müssen. Und gleichzeitig hat man schiere Unmengen an Geld für nicht oder wenig evidenzbasierte Gesundheitsinterventionen ausgegeben - ohne Forschungsagenda, um die Wissenslücken zu schließen. Von der fraglichen Verhältnismäßigkeit im Vergleich zu anderen Erkrankungen ganz abgesehen.

Sie sind Teil der Initiative »Coronastrategie«. Was sind deren Ziele und Vorschläge?

Unser Augenmerk gilt der evidenzbasierten Risikobewertung. Üblicherweise ist das ein transparenter und strukturierter Prozess, von der Problemerkennung bis hin zu Alternativvorschlägen für evidenzbasierte Maßnahmen für die Politik. Dabei müssen Vor- und Nachteile aus den verschiedenen Perspektiven abgewogen werden, verschiedene Vorschläge entwickelt und gegenübergestellt werden - damit man nicht bloß ein einzelnes, alternativloses Konzept verfolgt. Zu gesellschaftlich und wirtschaftlich tragfähigen und medizinisch effizienten Beurteilungen können keine einzelnen Wissenschaftler kommen, sondern nur ein interdisziplinäres Team mit den relevanten Fachkollegen. Der wissenschaftliche Konsens kann nicht von einzelnen Wissenschaftlern oder auch Gruppen ohne strukturierten, transparenten Evaluierungsprozess kommen.

Über die Rolle der Wissenschaft wurde bereits viel diskutiert. Wie ist Ihre Meinung?

Der Erkenntnisfortschritt lebt vom Diskurs, also vom gemeinsamen Streit um die beste Lösung und Herangehensweise. Letztlich müssen Kompromisse zwischen Gesundheit, Freiheit und Wirtschaft gefunden werden, die auch gesellschaftlich tragfähig sind. Wenn die Politik ergebnisoffen an einer unabhängigen Beratung interessiert ist, muss sie aber auch das organisatorische Umfeld dafür schaffen. Bei den Impfstoffempfehlungen gibt es die Stiko, für übertragbare Krankheiten die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (Krinko). Warum hat sich die Bundesregierung keinen unabhängigen Pandemieexpertenrat »geleistet«? Wer beurteilt unabhängig das Risiko von Sars-CoV-2-Varianten, die Wirksamkeit von Ausgangssperren oder Grenzschließungen? In der öffentlichen Wahrnehmung sind das wohl mehr durch Talkshows tingelnde Politiker als evidenzsuchende Expertengremien. Ebenso fehlt ein differenzierter Stufenplan, mit dem man transparent und mit vorhersagbaren Maßnahmen langfristig durch ein dynamisches Pandemiegeschehen kommt. Da bin ich wieder bei meiner ersten Antwort: Man hat aus der Vergangenheit nicht lernen wollen.

Sie sind in der DDR aufgewachsen und haben dort studiert. Spielt es eine Rolle, dass Sie aus dem Osten kommen?

1990 habe ich Deutschland verlassen und bin zur WHO nach Genf gegangen, habe 15 Jahre in der Schweiz und Frankreich gelebt, danach in den USA. Aber sicherlich hat mich die ausgezeichnete Ausbildung geprägt, die ich an der Universität Leipzig genossen habe. Und auch die Möglichkeit, angewandte Wissenschaft als Abteilungsleiter für Infektionskrankheiten am späteren Bundesinstitut für Viruskrankheiten zu betreiben.

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