• Politik
  • »Nachbarschaftspolizei«

Frankreichs Problem mit Bürgerwehren

Einst vom Staat gefördert, befindet sich der Selbstschutz gegen Kriminelle in juristischer Grauzone

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

In den Ferienmonaten, in denen viele Hausbesitzer Urlaub machen, haben erfahrungsgemäß die Einbrecher Hochkonjunktur. Im Schnitt zählt man landesweit rund 1000 Einbrüche täglich und seit langem steigt die Zahl um jährlich fünf Prozent. Nicht zuletzt, um dem vorzubeugen, doch vor allem um ein Vertrauensverhältnis zwischen den Ordnungskräften und der Bevölkerung aufzubauen, hatte die Linksregierung unter Premier Lionel Jospin 1998 eine spezielle »Nachbarschaftspolizei« geschaffen.

Doch die wurde 2002 durch Nicolas Sarkozy wieder abgeschafft, als er Innenminister der rechten Regierung unter Premier Jean-Pierre Raffarin war. »Polizisten sollen Diebe fangen und nicht mit Jugendlichen Fußball spielen«, erklärte er kernig. Als Sarkozy dann Präsident war, ließ sein Innenminister Claude Guéant 2007 durch Polizei und Gendarmerie Netzwerke »Wachsame Nachbarn« aufbauen, wie es sie seit langem in den USA und Großbritannien unter dem Namen »Neighbourhood Watch« gibt. Dabei werden interessierte Hausbesitzer von der Gendarmerie in einem Kurzlehrgang geschult und erhalten zum Abschluss ein Diplom als »Kapitän des Viertels«. Sie sollen weitere Mitglieder für das Netzwerk werben und die Verbindung zwischen ihnen und den Ordnungskräften halten.

Es geht darum, verdächtige Autos zu notieren oder Personen zu beobachten, die sich auffallend intensiv die Häuser und Grundstücke ansehen, sie also vielleicht für einen nächtlichen Raubzug ausspionieren. An den Haustüren der beteiligten Einwohner prangt zur Abschreckung ein grellgelbes Schild mit einem Auge und der Warnung »Geschützt durch ›Wachsame Nachbarn‹ in direkter Verbindung mit Polizei und Gendarmerie«.

Was im Jahr 2007 versuchsweise mit 200 Gemeinden in 29 der 101 Departements des Landes begonnen hat, umfasst heute bereits fast 200 000 Einwohner von 3274 Städten und Gemeinden in 89 Departements. Dadurch konnte nach Schätzung des Innenministeriums in einzelnen Orten die Zahl der Einbrüche um 20 bis 40 Prozent gesenkt werden. Doch bei allem Überdruss über die Kriminalität und die mangelhafte Polizeipräsenz kommt das Prinzip, das inzwischen von den Behörden schamhaft in »Wachsame und solidarische Nachbarn« umbenannt wurde, nicht bei allen Franzosen gut an. Zu wach ist noch die Erinnerung an die Jahre der Besetzung und des Vichy-Regimes, als Bespitzelungen und Denunziationen viele Menschen das Leben gekostet haben.

Immer mehr Besitzer von Eigenheimen und Eigentumswohnungen sind zum Selbstschutz übergegangen, indem sie sich hinter immer höheren Zäunen und Mauern mit gesicherten Toren und Videokameras verbarrikadieren. Dort gibt es nun keinen Drogenhandel oder Straßendiebstahl mehr und kaum noch Einbrüche oder Autodiebstahl. Allein in Marseille, wo die Kriminalität besonders hoch ist, gibt es rund 1500 so gesicherte »Wohnzonen« oder einzelne Wohnhäuser für Besserverdienende. Da man solche Mittel in »normalen« oder gar in Sozialwohnvierteln nicht hat, greifen dort immer mehr Menschen zu nicht erlaubter Selbstjustiz. Bei Zusammenstößen mit Drogenhändlern, die sich von den Anwohnern nicht vertreiben lassen wollten, sind bereits mehrere Dutzend Menschen zum Teil schwer verletzt worden.

Umgekehrt haben in Marseille-Nord, einem der ärmsten Viertel in Frankreich mit einer extrem hohen Kriminalität, Gruppen von Anwohnern mehrfach gewaltsam Zeltlager von Roma oder von Geflüchteten überfallen. Dabei wurden diese Lager zerstört und deren Bewohner vertrieben, ohne dass die Polizei eingegriffen hätte. Die ist auch schnell dabei, wenn Drogendealer bei Nacht erschossen werden, von »Auseinandersetzungen im Milieu« zu sprechen und die Fälle zu den Akten zu legen. Dabei könnten darunter Experten zufolge durchaus auch Fälle von Selbstjustiz durch Privatmilizen sein, zumal sich schätzungsweise zehn Millionen Schusswaffen illegal im Umlauf befinden.

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