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Messerangriffe: dramatisch, aber selten
Auch wenn die Berichterstattung über blutige Attacken anderes glauben macht, in der Polizeistatistik spielen sie kaum eine Rolle
Würzburg, Erfurt, Hof und noch mal Erfurt: Man muss gedanklich nicht allzu weit in die Vergangenheit reisen, um Fälle zu finden, in denen mutmaßliche Gewalttäter zum Messer gegriffen und damit auch noch brutal zugestochen haben.
In Würzburg hatte am 25. Juni ein 24-Jähriger mit einem Messer drei Frauen getötet und insgesamt neun Menschen verletzt, mehrere von ihnen schwer. Die Tat ist durch Videos, die unter anderem im Internet zu finden sind, detailliert dokumentiert. Das Messer hatte der aus Somalia stammende Mann nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen in der Haushaltsabteilung eines Kaufhauses mitgenommen und dann sofort auf sein erstes Opfer eingestochen. Zuvor hatte er sich in dem Kaufhaus beraten lassen. Der Fall sorgte insbesondere wegen der Herkunft des Täters für Schlagzeilen, aber auch, weil er offenbar gezielt Frauen angriff. Unter den Toten war eine Mutter, die sich schützend vor ihre Tochter gestellt hatte. Auch das elfjährige Mädchen wurde schwer verletzt. Es waren mehrheitlich Menschen migrantischer Herkunft, die sich dem Angreifer entgegenstellten und Schlimmeres verhinderten.
In den vergangenen Wochen ereigneten sich unterdessen noch weitere Messerattacken. Nur wenige Tage nach der schrecklichen Tat von Würzburg griff in Erfurt ein 32-Jähriger an einer Straßenbahnhaltestelle im Südosten der Stadt zwei Menschen mit einem Messer an und verletzte sie, ehe er sich in seine Wohnung zurückzog und sich dort selbst verletzte. Inzwischen ist der Mann in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. Seine Opfer – zwei Männer – wählte der Angreifer nach bisherigen Erkenntnissen der Ermittler zufällig aus.
Noch ein paar Tage später dann eine Bluttat im bayerischen Hof, bei der ebenfalls ein Messer eingesetzt wurde: Ein 63-jähriger Busfahrer wurde von einem 43-Jährigen erstochen, nachdem er versucht hatte, einen Streit zu schlichten. Inzwischen wurde bekannt, dass der aus Sachsen stammende Tatverdächtige Wochen zuvor bereits auf einen Nachbarn eingestochen haben soll. Nach Angaben der Polizei Zwickau wurde diese mutmaßliche Tat des Mannes aus dem Vogtland von der Polizei aufgenommen, die Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln – doch der Verdächtige blieb auf freiem Fuß.
Zur gleichen Zeit wie in Hof eskalierte in Thüringens Hauptstadt Erfurt auf einer Baustelle ein Streit unter Kollegen. Ein 28-jähriger Bauarbeiter stach auf einen 31-Jährigen ein und verletzte ihn lebensgefährlich. Das Opfer konnte nur mit einer Notoperation gerettet werden.
Extrem hohes Maß an Aggression
Jeder dieser Fälle hat viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, insbesondere jener in Würzburg. Hier war der Täter ein Somalier, der drei Frauen tötete. Die Aufmerksamkeit ist insofern gerechtfertigt, als es ein extrem hohes Maß an Aggression und Gewaltbereitschaft beim Angreifer voraussetzt, auf einen anderen, gar fremden Menschen einzustechen. Das betonen zum Beispiel Selbstverteidigungstrainer immer wieder.
Solche Angriffe – das liegt in der Natur der dabei eingesetzten Waffe – erfolgen aus nächster Nähe und werden mit einem hohen Krafteinsatz ausgeführt. Einen Menschen mit einem Messer zu töten oder das zumindest billigend in Kauf zu nahmen, das also von Angesicht zu Angesicht zu tun, hat eine ganz andere Qualität, als jemanden zu schlagen, zu treten oder zum Beispiel aus einiger Entfernung auf ihn zu schießen.
Das wird auch darin deutlich, dass die meisten Menschen, die mit einem Messer attackiert werden, nicht nur eine Stich- oder Schnittwunde aufweisen. Regelmäßig finden sich in solchen Fällen in den Ermittlungsakten von Polizei und Staatsanwaltschaft dazu Fotos von Opfern, auf die die Angreifer fünf-, zehn- oder zwanzigmal eingestochen haben, oft in den Hals oder in den Oberkörper.
Nicht zuletzt für Polizisten gehören Szenarien, in denen sie etwa bei einer Personenkontrolle plötzlich mit einem Messer angegriffen werden, zu den dramatischsten Situationen überhaupt. »Es ist sehr schwierig, auf solche Angriffe zu reagieren«, heißt es aus der Polizeiabteilung des Thüringer Innenministeriums – was einmal mehr verdeutlicht, welch große Gefahr solche Attacken für Menschen darstellen, die sich ohne Schutzweste, ohne Schlagstock, ohne Dienstpistole und in der Regel auch ohne Selbstverteidigungstraining durch die Straßen bewegen. Polizisten, so das Innenministerium weiter, würden deshalb nicht nur speziell auf das Auffinden von Messern und anderen gefährlichen Gegenständen bei Personenkontrollen geschult. Und auch dazu, dass Messerangriffe unter anderem dann mit einer höheren Wahrscheinlichkeit vorkommen können, wenn die Beamten zu Fällen von häuslicher Gewalt gerufen werden. Sie trainieren auch entsprechende Abwehrtechniken intensiv. »Übung, Übung, Übung ist hier das Motto.«
Doch so dramatisch jede dieser Taten ist, so falsch wäre es doch, sich nicht zuletzt angesichts der vier genannten Fälle aus den letzten Wochen der Vorstellung hinzugeben, auf deutschen Straßen oder in deutschen Wohnungen werde stets und ständig zugestochen oder mit einem Messer gedroht. Oder zu der Annahme zu gelangen, heute werde sehr viel häufiger zugestochen als »früher«. Die öffentliche Aufmerksamkeit für die einzelnen Fälle darf nicht den Blick darauf verstellen, dass Messerstechereien und Ahnliches nach wie vor selten vorkommen.
Eine umfangreiche Recherche der Thüringer Polizei in ihren eigenen Datenbanken – durchgeführt, um eine parlamentarische Anfrage des Linke-Landtagsabgeordneten Steffen Dittes zu beantworten – unterstreicht diese Einordnung. Gesucht haben Polizisten dabei nach allen Fällen, in denen in den Jahren 2019 und 2020 in der Einsatzdokumentation der Landespolizei die Worte Dolch, Messer, Haushaltsmesser, Küchenmesser, Taschenmesser, Klappmesser oder Butterflymesser aufgetaucht waren. Weil eine statistische Erfassung von Messern als Tatwerkzeuge zuletzt nicht bundesweit standardisiert erfolgt war, gab es für das Ministerium keinen anderen Weg als eine solche Recherche, um die entsprechenden Daten zu erlangen.
Weniger als ein Prozent der Straftaten
Zwei der wesentlichen Zahlen, die diese Recherche zutage gefördert hat: Im Jahr 2019 tauchten die genannten Stichwörter 985-mal und im vergangenen Jahr 947-mal auf. Das bedeutet, grob vereinfacht, dass Messer bei Straftaten in Thüringen in beiden Jahren jeweils etwa 1000-mal eine Rolle gespielt haben.
Was nach einer hohen Zahl klingen mag, relativiert sich allerdings deutlich, wenn man erstens weiß, dass die Thüringer Polizei 2019 fast 130.000 und 2020 fast 142.000 Straftaten erfasste. Messer spielten also im vorvergangenen Jahr nur bei etwa 0,8 und 2020 bei 0,7 Prozent aller erfassten Delikte eine Rolle.
Noch deutlich geringer wird die Bedeutung von Messern als kriminelles Werkzeug in Thüringen, wenn man weiß, dass »eine Rolle spielen« nach den Recherche der Polizisten so ziemlich alles bedeuten kann, zum Beispiel: dass jemand mit einem Messer zugestochen hat. Dass jemand damit gedroht hat, um etwas zu rauben. Dass jemand ein Messer im Rucksack hatte, als er mit einem gefälschten Ausweis aufgegriffen wurde. Dass jemand ein Messer in einem Geschäft geklaut hat. Eine Unterscheidung danach, ob das Messer bei der Begehung der Straftat aktiv eingesetzt oder vom Tatverdächtigen nur passiv mitgeführt wurde, habe man bei der Recherche nicht gemacht, heißt es aus der Polizeiabteilung des Erfurter Innenministeriums. Den Zahlen der Recherche zufolge wurden 2019 im Freistaat 188 Menschen durch Messer leicht oder schwer verletzt, sieben Menschen starben an mit einem Messer zugefügten Wunden. Im Jahr 2020 gab es durch vergleichbare Straftaten 207 Verletzte und zwei Tote.
Auch die anderen Angaben der Recherche sind mit Vorsicht zu interpretieren, wenn es um ganz genaue Zahlen geht. Sie verweisen aber darauf, dass Messer in den Händen hochaggressiver Menschen in seelischen Ausnahmezuständen zwar grundsätzlich höchst gefährlich sind – dass es aber keinen Grund gibt, sich aus Angst vor Messerattacken nicht mehr auf die Straße zu trauen.
So zeigen die Polizeizahlen, dass es in Thüringen 2019 und 2020 rund 500 beziehungsweise 600 sogenannte Rohheitsdelikte gab, bei denen Messer eine Rolle spielten. Allerdings auch hier wieder: sowohl aktiv als auch passiv. Gemessen an etwa 19.400 beziehungsweise etwa 22.000 »Rohheitsdelikten« in diesen beiden Jahren laut Polizeistatistik wird auch hier einmal mehr klar, dass der Einsatz von Messern bei körperlichen Auseinandersetzungen und Ähnlichem sehr selten ist. Zu den Rohheitsdelikten zählen unter anderem Körperverletzungen und Raubstraftaten.
Bemerkenswert an den Zahlen ist dagegen, dass Messer – anders als es immer wieder scheint – längst nicht nur in den größeren Städten des Landes im Zusammenhang mit Straftaten auftauchen. Selbst in der angeblich noch immer heilen Welt der ländlichen Gegenden Thüringens werden Polizisten immer wieder damit konfrontiert. Von den etwa 600 Rohheitsdelikten beispielsweise, die 2020 einen »Messerbezug« aufwiesen, ereigneten sich etwa 220 in Städten oder Gemeinden mit höchstens 20.000 Einwohnern. Zum Vergleich: In Städten mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern waren es etwa 300.
Die Welt auf dem Land ist also offenbar ebenso wenig heil, wie sie in den Städten kaputt ist. Ebenso wenig haben »Messerstecher« und ihre Opfer immer eine bestimmte Nationalität. Die Personen, die in Würzburg, Erfurt und Hof zustachen oder das getan haben sollen, haben die Staatsangehörigkeiten ganz unterschiedlicher Länder. Ebenso wie jene, die dabei verletzt worden sind oder – besonders im Fall von Würzburg – durch ihr entschlossenes Handeln noch Schlimmeres verhindert haben.
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